Dies ist ein Interludium zu der Fortsetzungsgeschichte „Wissen ist Macht“.
„Charlene?“, flüsterte die ruhige Frauenstimme neben ihrem Ohr und der Schleier vor ihrem Gesichtsfeld begann sich zu lüften. Grüne, blaue und braune Farbtupfer wurden klarer, setzten sich zu dem Innern eines Zimmers zusammen, durch dessen Fenster der sonnenüberflutete Strand von Samoa zu erkennen war, auf dem eine einsame Palme stand, die sanft im Wind wippte, der einzige Gegenstand, der sich bewegte. Doch etwas stimmte nicht, denn der Raum schien zu schwanken, alles fühlte sich instabil und fragil an, wie die Projektion eines alten Filmes nach schier endloser Lagerzeit. Kein Geräusch drang von draußen nach innen, sie war isoliert. Sie konnte eine blonde, mit Schweiß und Blut verklebte Haarsträhne erkennen, die scheinbar unberührt vor ihrem Kopf baumelte.
„Charlene?“, hörte sie sie erneut. „Bist du wach?“
Sie setzte dazu an etwas zu sagen, gab aber stattdessen ein unverständliches und heiseres Grunzen von sich, bevor sie begriff, dass sie keine Kontrolle über ihren Körper hatte. Sie konnte nicht einmal ihren Kopf bewegen und die Sprecherin erkennen. Panisch kämpfte sie gegen ihre Fesseln an, versuchte sie aufzureißen, doch nichts geschah, nicht einmal der kleine Finger zuckte. Erst als ihr Blick auf ihre Hand wanderte konnte sie erkennen, dass diese auf ihrem nackten Knie lag und sie gar nicht gefesselt war und ohne zu verstehen wieso setzte sie zu einem stummen Aufschrei an: Bitte, lass mich aufwachen! Doch sie brachte kein Wort zustande, sie konnte es nicht sagen, war in ihrem unbeweglichen Körper gefangen.
„Wo sind wir?“, fragte die Unbekannte und legte ihr beruhigend von hinten eine Hand auf die Schulter. Auch wenn sie sich nicht rühren konnte, so konnte sie doch jede Berührung fühlen. Mechanisch, ohne wirklich zu wissen wieso, entgegnete Charlene, selbst erstaunt, dass sie sprechen konnte: „Samoa.“
„Und wieso bist du hier?“, erklang die Stimme erneut, freundlich, entspannend und unglaublich vertraut. Sie versuchte, sich umzusehen und etwas zu erkennen, doch es gelang ihr nicht. Egal, wie viel Kraft sie aufbrachte, sie konnte sich nicht rühren.
„Wehr dich nicht dagegen“, beschwichtigte sie die Unbekannte, die sie noch nie gesehen hatte. „Alles ist gut. Wieso bist du hier?“
Irgendwo musste doch die Antwort sein, irgendwo, tief vergraben in ihren Erinnerungen …
„Weil ich einen Erholungsurlaub mache?“, fragte sie schließlich zögerlich, beinahe ängstlich. Doch sie begriff nicht vor was sie sich fürchtete, denn alles in ihrer kleinen, immer gleichen Welt schien normal und vertraut zu sein. Die Palme, die sie nun schärfer erkennen konnte, bewegte sich weniger, der Wind musste nachgelassen haben. Eine alte, hölzerne Kommode, auf der eine Tischlampe stand, war das einzige Möbelstück in ihrem Blickfeld, doch da musste noch mehr sein, sie wusste es, sie kannte es. Doch wieso?
„Richtig“, wurde sie gelobt. Der Arm der Unbekannten schob sich in ihr Blickfeld und strich ihr die Haarsträhne aus dem Gesicht, bevor sie wieder verschwand. Sie konnte ein Seufzen hören und wusste, dass es nichts Gutes verhieß, wenn sie auch keine Ahnung hatte, wieso sie das wusste. Sie konnte den Impuls fühlen, aufzuspringen und wegzurennen und begann rascher zu atmen, konnte jedoch nichts tun außer sitzenzubleiben und auszuharren.
„Weißt du“, wurde die Stille unterbrochen, „wir sind beide aus demselben Grund hier. Ich hoffe, du verstehst das.“
„Nein“, wollte Charlene entgegnen, doch es ging nicht, sie hätte genauso gut versuchen können zu fliegen. Wieder kam die Hand in ihr Gesichtsfeld, doch dieses Mal hielt sie etwas, das sie an eine Häkelnadel erinnerte. Beinahe sanft wurde damit ihr Knie berührt und rasend schnell fuhr ein brennendes Gefühl ihren Oberschenkel hoch, in den Torso und als es, wohl nur eine Sekunde danach, ihren Kopf erreichte, glaubte sie, dass er gleich explodieren würde. Schwarzes Flackern zuckte durch ihr Gesichtsfeld und ließen alles zu einem Brei aus Farben verschwimmen, in dem sie nicht einmal die Bewegung der Palme erkennen konnte. Der Raum begann wieder zu schwanken und eine Erinnerung blitze für einen Augenblick auf, ein Déjà-vu; sie hatte es schon einmal erlebt, nein, unzählige Male, wie ein nie enden wollender schlechter Traum würde sie es wieder erleben, und wieder, und immer wieder. Eine alles erdrückende, klaustrophobische Panik breitete sich in ihr aus, denn auch wenn sie nicht begriff, wieso alles geschah, so wusste doch ein Teil von ihr, was als nächstes passieren würde. Sie würde sterben.
Sie konnte nicht mehr gut atmen und hatte den Eindruck, als ob ihre Luftröhre langsam mit Wasser zulief, während sich jemand schweres auf ihren Brustkorb setzte. Es war zu real, als dass es bloße Einbildung hätte sein können und auch wenn ihre Augen ihr immer noch verreiten, dass sie auf demselben Stuhl in demselben Zimmer saß, war sie in einen stummen und reglosen Todeskampf verstrickt, den sie nicht gewinnen konnte. Sie konnte das Pochen ihres eigenen Herzschlages hören und wollte um ihr Leben betteln, bevor es zu schlagen aufhörte, wollte sich wehren, doch sie brachte nicht mehr als ein schwaches, erschöpftes Röcheln zustande.
„Charlene?“, flüsterte die ruhige Stimme. „Handlungen haben Konsequenzen. Gedanken haben Konsequenzen. Worte haben Konsequenzen.“
Ihr zweckloser Kampf ging weiter, immer weiter, und alles, was sie sich noch wünschte war, in der Lage zu sein, um ihren Tod zu flehen oder sich das Leben nehmen zu können. Das musste ein Albtraum sein, dachte sie, es konnte nicht real sein! Zeit war etwas, das sie nicht mehr kannte, alles wiederholte sich, geschah zugleich, Sekunden dehnten sich zu Monaten und es gab kein Ende, keinen Ausweg. „Bitte“, wisperte sie mit aller Kraft, die sie aufbringen konnte, doch nichts geschah und auch dieses Mal begriff sie, dass sich ihre Lippen nicht bewegt hatten.
„Was du denkst, was du fühlst, es ist nicht echt“, erklärte die Unbekannte in einem einfühlsamen Tonfall. „Es kann dir nichts tun, wenn du es nicht lässt.“
„Du bist eine schöne, nette, junge Frau“, erklang es hinter ihr. „Es wäre doch eine Schande, wenn du deine Lieblichkeit zerstören würdest, oder?“
Charlene setzte zu einer Antwort an, doch sie wusste für einen Augenblick nicht, was sie sagen wollte, nein, musste. Sie starrte auf die Palme, die scheinbar unberührt von allem in immer rötlicher werdendes Licht getaucht wurde und der friedliche, erholsame Strand schien meilenweit entfernt zu sein, in einer anderen Welt. Es gab nur eine richtige Antwort auf jede Frage, so viel wusste sie. Es gab nur eine Möglichkeit, wie das alles aufhören würde, wie die Welt wieder in Ordnung sein konnte, wie …
„Wir wissen, was du denkst“, fuhr die Unbekannte fort. „Wir wissen, was du gesagt hast, als du gedacht hast, niemand würde zuhören. Dass du von deinem Glauben abgefallen bist.“
Ja, es gab nur eine Antwort, nur eine Möglichkeit, schoss ihr durch den Kopf und sie durchforstete ihr Gedächtnis panisch danach; irgendwo musste sie doch sein, immerhin hatte sie diese Sache schon mehr als einmal überlebt. Obwohl sie sehen konnte, dass mit ihr nichts geschah, versuchte ihr Körper weiterhin sich aufzubäumen, sich zu wehren und sie vor dem Erstickungstod zu bewahren. Da, für einen Augenblick. für den Bruchteil einer Sekunde, glaubte sie, sie könnte endlich ihre Bewegungen fühlen/wahrnehmen, doch ihre Hoffnung hielt nicht lange.
Bitte, schrie sie innerlich in einer Lautstärke, die ihren Schädel brummen ließ. Ihr regloser Körper war ein Gefängnis und es gab nur eine Antwort, eine Möglichkeit und sie mussten hier irgendwo sein …
„Du weißt, wie wir bessere Menschen werden“, ermutige sie die Unbekannte. „Ich glaube an dich.“
Ada, hilf mir! Sie wusste nicht, woher der Gedanke gekommen war, doch da brach es plötzlich über sie herein, unzählige Bilder und Erinnerungen an ihre Familie, an ihre Freunde, viel schärfer und klarer als zuvor. Ihre Schwester Ada, wie sie ihr den dummen ananasförmigen Schlüsselanhänger geschenkt hatte, kurz bevor sie in den Zug gestiegen war, der langsame Tod ihres Vaters, der lange an derselben Krankheit gelitten hatte, sie selbst, wie sie zum ersten Mal ein verbotenes Buch aufgeschlagen und sich damit eine neue Welt geöffnet hatte …
Nein, das war nicht die Antwort, das war nicht die Möglichkeit auf einen Ausweg und wenn sie weiter daran dachte, würde sie nur rascher untergehen, rascher ertrinken.
„Charlene?“, fragte die Stimme und jemand legte ihr eine Hand auf die Schulter. „Wieso bist du hier?“
Gehetzt fiel ihr Blick auf das Fenster auf die sanft wippende, sonnenbestrahlte Palme und mit einem Mal begriff sie und alles ergab einen Sinn. Sie war hier, weil sie einen Erholungsurlaub machte, denn sie hatte Fehler gemacht. Man ging nicht nach Samoa um zu leiden, sondern weil es hier schön war. Und sie lächelte.