Diese Story ist auch als Hörgeschichte erschienen.
„Sag mal“, fragte Harry leise, als er auf die weite, vom Mondlicht bestrahlte Marschlandschaft in der spanischen Einöde schaute, die sich vor ihnen ausbreitete, „wann waren wir uns eigentlich sicher?“
Lara, die sich auf einen Felsbrocken gesetzt hatte, zuckte ratlos mit den Schultern. „Keine Ahnung, das war vor langer Zeit. Vielleicht vor zwanzig Jahren?“
Harry wandte sich ihr zu. „Wollen wir?“ Sie erhob sich nickend, griff nach ihrem Gehstock und strich eine Strähne ihres grauen Haars aus dem Gesicht. Langsam schritten sie auf das gigantische Loch in dem Boden zu, das in der Gegend des Guadalquivir-Flusses lag. Vom Rand hatten die beiden einen guten Ausblick in die Tiefe der Grube, in der sich die Ruinen einer Stadt ausbreiteten. Am eindrücklichsten zu erkennen waren drei konzentrische Kreise einer ehemaligen Hafenanlage und ein Tempel, der sich auf einer Anhöhe in der Mitte erhob. Er war kaum zerfallen, über die Jahrtausende konserviert unter dem Schlamm, wohl eines der am besten erhaltenen Gebäude seiner Zeit.
Vorsichtig stiegen die beiden Senioren die Treppe hinunter, die im Laufe der Ausgrabungen, die mehr als fünfzehn Jahre gedauert hatten, am Rand der großen Mulde angebracht worden war. Harry war etwas außer Atem, als sie unten anlangten, doch er war trotz seines Alters noch fit genug, um die Anstrengung einigermaßen problemlos wegstecken zu können. Die beiden schlenderten der Straße entlang, an der mehrere Häuser standen, einige in gutem Zustand und andere ziemlich zerfallen. Harry drehte sich zu seiner Kameradin und Ehefrau zu, bevor er beeindruckt sagte: „Weißt du noch, als wir jung waren? Wir haben unsere Träume gehabt, das waren wilde Abenteurer …“
Lara lachte heiser. „Ja, das waren Zeiten. Ich hatte damals immer von diesem Augenblick phantasiert, in dem wir durch die Straßen von Atlantis gehen würden, doch wenn ich ehrlich sein will, hatte ich nie so richtig daran geglaubt, ihn tatsächlich irgendwann erleben zu dürfen – es war mir einfach so verrückt vorgekommen. Und jetzt stehen wir da …“ Sie unterbrach sich und seufzte. „Der größte Fund des Jahrhunderts.“
„Heinrich Schliemann wurde auch von allen für verrückt gehalten, und er hat Troja gefunden“, wandte Harry ein. „Visionäre müssen sich das unvorstellbare vorstellen können. Ohne solche Idealisten wäre vieles nicht entdeckt worden. Stell dir vor wir würden in einer Welt leben, in der wir nichts über die Hellenischen Bibliotheken, den Tyrannosaurus Rex oder Penizillin wissen würden.“
Lara erschauerte kurz, als sie sich auf einen Felsblock mit Ausblick auf den Tempel setzte, offenbar war sie müde vom Gehen. „Das wäre keine Welt, in der ich leben möchte“, murmelte sie. „Eine Existenz ohne Neugier, Entdeckergeist und Wissenschaft, grauenhaft! Keine Kulturgeschichte, kein Verständnis für das Universum …“
Harry ließ sich neben seiner langjährigen Gefährtin nieder und kramte eine Wolldecke aus dem Rucksack, den er bei sich getragen hatte. Die Nacht war etwas kühl, also deckte er seine und Laras Beine zu. In einem Anflug von Nostalgie murmelte er: „Weißt du noch, als dir dein Professor gesagt hat, dass du besser UFOs statt Atlantis suchen solltest, weil du sogar damit mehr Chancen auf Erfolg hättest?“
Lara gluckste und lehnte sich zurück, um einen Blick auf den Nachthimmel zu werfen. Hier draußen waren unzählige Sterne zu erkennen, da es kein künstliches Licht gab. „Stimmt, der alte Doktor Jones, der war eine Klasse für sich. Aber dir hat doch ein anderer Berufskollege mal einen Traumfänger geschenkt?“
„Genau“, entgegnete Harry amüsiert. „Er hat gemeint, wenn ich schon Träumen nachjage, könne ich genauso gut mal einen fangen.“
„Ja, die guten alten Zeiten, in denen uns niemand ernst genommen hat“, murmelte Lara. „Irgendwie vermisse ich sie.“ Sie machte eine Pause und verfolgte mit den Augen eine Sternschnuppe. „Versteh mich nicht falsch, ich halte gerne Vorlesungen und Seminare, aber es ist nicht dasselbe, als mit Dreck im Gesicht nach etwas zu suchen, an das keiner mehr glaubt.“
Harry schwieg für einige Zeit und sah sich in der antiken Stadt um. Schließlich meinte er nachdenklich: „Und das wird wohl unser letzter ruhiger Abendspaziergang hier sein. Du kannst dir ja den Medienzirkus vorstellen, wenn sie in einer Woche die Ruinen für die Öffentlichkeit zugänglich machen werden. Jeder wird wieder mit uns sprechen wollen, den beiden wahnsinnigen Archäologen, die ewig auf der Jagd nach der verschollenen Stadt waren.“
„Ich weiß nicht, ob ich da sein möchte“, antwortete sie grüblerisch. „Versteh mich nicht falsch, ich habe damals geweint, als wir Atlantis endlich gefunden hatten, ich hatte auch kein Problem, mit den Medienleuten zu sprechen. Aber diesmal vor all die Kameras zu treten, jetzt, wenn die Anlage als Touristenmagnet vermarktet wird …“ Sie unterbrach sich, bevor sie entschlossen hinzufügte: „Souvenirstände und Leute, die Süßigkeiten an einer historischen Stätte essen, das ist einfach nicht mein Ding.“
Harry machte ein zustimmendes Geräusch und kramte ein kleines, in Blumenpapier eingepacktes Geschenk aus seiner Tasche, das er seiner Frau überreichte. „Meines auch nicht, darum habe ich etwas für dich aufgetrieben.“
„Oh, was ist es?“, wollte sie erstaunt wissen, doch er nickte ihr nur aufmunternd zu und bedeutete ihr, es aufzumachen. Bedächtig wog sie es in den Händen. „Es ist schwer.“
„Komm schon, mach es auf“, drängte Harry sie mit einem Grinsen der Vorfreude. „Es wird dir gefallen, du verrückte Archäologin.“
„Ein Relikt?“, fragte sie mit plötzlicher Begeisterung und riss hastig das Papier von dem dicken Karton, dann klappte sie den Deckel auf. Harry sah ihr dabei mit einer Aufregung zu, die einem kleinen Jungen an Weihnachten würdig gewesen wäre. Sie keuchte erstaunt auf, als sie ehrfürchtig in die Schachtel langte, das goldene Medaillon heraushob und es vorsichtig betrachtete. „Wow, unglaublich!“
„Moment, das ist noch nicht alles“, sagte Harry hastig und reichte ihr eine Taschenlampe. Erwartungsvoll leuchtete sie damit auf das Relikt und untersuchte es. „Antikes Maya“, murmelte sie gedankenversunken und begann damit, die Inschrift zu übersetzen. Harry beobachtete sie dabei nervös und konnte sich das euphorische Lächeln nicht verkneifen, als er auf ihrem Gesicht den Ausdruck erkennen konnte, den er schon seit langem nicht mehr gesehen hatte. Rasch schaute sie auf und fragte: „Und das ist ein echtes Stück?“
„Ja, ich habe es überprüft“, entgegnete er und wartete noch einen Augenblick, bevor er hinzufügte: „Es ist echt.“
„Aber dann …“, setzte sie an und musste sich räuspern, sodass sie von neuem begann: „Dann könnten wir damit El Dorado finden!“
Harry ergriff ihre Hand und wirkte nervös, als er meinte: „Genau.“ In einem scherzhaften Ton fügte er hinzu: „Wenn wir nicht ein bisschen zu alt dafür sind, uns wieder vor der ganzen wissenschaftlichen Gemeinde zu Hornochsen zu machen.“
Entschlossen erhob sich Lara. „Man ist nie zu alt, um etwas entdecken und lernen zu wollen! Für mich ist Wissenschaft ein Abenteuer, spannender als jede Pressekonferenz es je sein könnte und dafür muss man Risiken eingehen. Ich sterbe lieber auf einer aussichtslosen Suche im Dschungel als gelangweilt im Altersheim.“
„Wenn du willst können wir morgen aufbrechen“, schlug Harry vor und legte seine Wolldecke weg. „Ich weiß von einem Frachter, der morgen früh von Barcelona ablegt und wir kennen in Südamerika genug Leute, um ein Team zusammenzustellen. So lange wir gute Fahrzeuge haben, sollten wir auch in unserem Alter noch einigermaßen durchs Gelände kommen.“
„Wir müssen wahnsinnig sein“, kicherte sie, während sie ihrem Mann half, die Decke einzupacken. Er wandte sich ihr zu und antwortete: „Natürlich. Aber das hat man uns auch damals gesagt, als wir die letzten gewesen sind, die hier nach Atlantis gesucht haben.“
Hat dies auf Wenn Tinte aus den Fingern fließt… rebloggt und kommentierte:
Interessant, was man aus ein paar Wortbrocken so machen kann. Ich hätte etwas völlig anderes im Sinn gehabt. Und genau das finde ich toll!
Schöne Idee, vielen Dank ;)