Dies ist der 4. Teil der Fortsetzungsgeschichte „Vier Jahre“.
„Himmel, jetzt ist die Schlange schon wieder so lang“, beschwert sich Mika, was ihm von allen erstaunte Blicke beschert – normalerweise wäre er der letzte Kandidat dafür, über etwas Alltägliches zu lamentieren. „Egal, wie viel sie ausbauen, sie kommen der Nachfrage nicht hinterher.“
„Ich dachte, ausgerechnet du als Physiker würdest jetzt einfach einen Witz über Gravitation machen“, kichert Nadine. „Vielleicht haben die ja ein schwarzes Loch im Club versteckt?“
Ich wende mich kurz dem „The Clue“ zu, Mika hatte Recht, die Schlange ist tatsächlich lang, es könnte sich dieses Mal um Stunden handeln. Aber heute will ich wirklich hierhin, denn es gibt so viel zu feiern wie kaum je zuvor: Unsere Freundschaft im Allgemeinen, die Tatsache, dass drei von uns abgeschlossen haben und zu guter Letzt meine Beziehung mit Anton. Vor genau einem Jahr, als ich mich wie ein sternhagelvoller Esel aufführte, haben Anton und ich uns entschieden, unser Verhältnis offiziell zu machen.
Die laue Spätsommerbrise lässt mein Haar, das ich eben erst mühselig glattgebürstet habe, im Wind flattern. Normalerweise würde ich sofort den Taschenspiegel zücken, um es in seine angedachte Form zu bringen, nur heute gönne ich mir das Risiko, verstrubbelt auszusehen und lehne mich stattdessen an Antons starke Schultern. Er legt sogleich einen Arm um mich, gibt mir das Gefühl von Geborgenheit, das er mir schon früher, als guter Freund, stets vermittelt hat. Ich weiß, er ist nicht sonderlich glücklich darüber, als einziger unserer kleinen Gruppe noch auf seinen Abschluss warten zu müssen und ich hoffe, ihn mit der Nähe auch etwas aufzuheitern. Irgendwie scheint jedes Mal, wenn wir hier feiern wollen, jemandem etwas zu fehlen, wenn auch der Tod von Nadines Mutter bedeutend schlimmer war als all die anderen Dinge. Automatisch schaue ich mich nach meiner Kameradin um, die noch immer mit Mika über Physik herumscherzte, mittlerweile waren sie beim Welle-Teilchen-Dualismus angelangt – ja, ihr geht es wieder gut, stelle ich zufrieden fest, während wir einen weiteren Schritt in der Schlange tun, die mich entfernt an einen alten Fritz-Lang-Film erinnert. Wir vier kommen mit allem klar, fällt mir auf, egal was jemanden von uns passiert, die andern sind für ihn da.
„Übrigens, ‚DJ Pencil‘ legt heute auf“, freut sich Anton, der aus mir unerklärlichen Gründen tatsächlich ein Fan dieser schrecklichen Discomusik ist – Liebe lässt einem kleine Differenzen vergessen. „Ein solcher Promi in unserem Club, wie cool ist das denn bitte?!“
„Hey, Mika?“, rufe ich dem frischgebackenen Doktoranden über die Musik zu, „du musst tanzen, schließlich bist du der letzte unseres fröhlichen Quartetts, dem hier noch etwas Peinliches widerfahren sollte.“
Er stützt sich locker auf die Bar und schüttelt vehement, wenn auch amüsiert den Kopf. „Vergiss es, Herrin der Krabbeltiere! Du wirst mich niemals aufs Glatteis führen.“
„Klar, mach dich nur über die Biologen lustig“, schäkere ich zurück, ehe ich Anton zu überzeugen versuche. „Was meinst du, Schatz, wollen wir es riskieren?“
„Wäre es etwas später auch okay?“, fragt er, offenbar noch kaum alkoholisiert genug um das Tanzbein zu schwingen. Ich stimme ihm zu und will gerade Nadine suchen, um meinen Bewegungsdrang zu stillen, als sie neben mir sagt: „Hey, vergiss dieses Mal nicht deine Sachen bei der Garderobe, ja? Das letzte Mal hast du die Körperkoordination beinahe da liegen lassen.“
Unwillkürlich schenke ich meine Aufmerksamkeit dem Ausgang mit Garderobe, Ort meines Waterloos, doch natürlich sind alle Spuren längst verschwunden. Außerdem haben die Besitzer umdekoriert – alles wirkt viel eleganter, schlichter und moderner. Ein gelber Scheinwerfer blendet mich und ich kneife die Augen zusammen, während ich mir wünsche, genauso talentiert darin zu sein, mein kleines Apartment einzurichten, wie es die Clubbesitzer mit ihrem Laden sein müssen. Nur was genau die Clubbesitzer mit diesem Gelb haben, das überall ist, verstehe ich nicht – jetzt haben sie sogar die Decke in der Farbe gestrichen. Ein großer Spiegel lenkt mich ab und ich versuche nun endlich, meine zerzauste Frisur zu richten sowie den Lippenstift nachzuziehen, was schon längst überfällig ist.
Müde von der wilden Tanzeinlage, bei der diesmal in der Tat niemand hingefallen ist (was ich als Anlass zum Stolz nehme), lehne ich mich an die Bartheke des langsam leerer werdenden Clubs. Ich fühle mich entspannt und zuversichtlich, alles wird gut kommen. Mika darf in einigen Tagen seine Doktoratsstelle antreten, natürlich an derselben Uni wie ich, während Nadine eine Stelle in einer Kunstgalerie beginnt, auf die sie sich schon sehr zu freuen scheint. Und Anton wird sich bald damit abfinden, noch ein Jahr zu wiederholen, immerhin gefällt es ihm trotz dem Kratzer an seinem Ego an der Uni. Ich bin schon gespannt und neugierig darauf, wo wir alle in unserem Leben stehen werden, wenn wir uns im nächsten Jahr hier treffen. Im Laufe der Zeit ist unser alljährlicher Ausflug zur Jubiläumsparty des „The Clue“ zu einem Fixpunkt unserer Freundschaft geworden – und für mich noch viel mehr. Damals, vor zwei Jahren, als mich Anton über die Sache mit meinen Ex hinweggetröstet hat, hat die Sache zwischen uns ihren Anfang genommen und jetzt sind wir bereits lange genug ein Paar, dass ich mir Gedanken über unsere Zukunft zu machen beginne …
„Scheiße, was zum …“ Nadines Ausruf reißt mich aus meinen Tagträumen, ich fahre herum, nur um zu erkennen, wie sie mit fuchtelnden Armen auf ihren besten Kumpel zu rennt, der längs auf dem Boden ausgestreckt liegt. Ich brauche einige Sekunden, bis mein alkoholvernebelter Verstand begreift, was geschehen ist: Offenbar hat der zukünftige Doktor der Physik die oberste Treppenstufe übersehen, als er aus dem Klo im Untergeschoß zurückgekehrt ist und deshalb auf eine sehr unangenehme Art Bekanntschaft mit der Gravitation geschlossen.
Lachend schließe ich mich den anderen an, die mittlerweile bei Mika angelangt sind. „Ja, wir werden noch viele Abenteuer hier im ‚The Clue‘ erleben, wenn das so weitergeht“, meint Anton lachend, als er seinem Kameraden aufhilft.