Das Postamt war ein niedriger und alter Backsteinbau, der seine besten Tage schon längst hinter sich hatte. Die Fugen schienen zu bröckeln, wahrscheinlich waren sie vom nach brackigem Wasser riechenden Meerwind über Jahrzehnte hinweg angegriffen worden, und die Fassade war mit grauschwarzem Dreck bedeckt. Niemand wusste, warum das kleine Dorf in Südengland, dessen Namen ich hier nicht nennen will, überhaupt noch ein Postamt hatte – zur nächsten Stadt wären es mit dem Auto bloß zwanzig Minuten gewesen. Ach ja, das Dorf: Vielleicht vierzig Häuser, alle aus den typischen roten Ziegeln gebaut und altersschwach, eine nur leicht befahrene Hauptstraße und die größte Attraktion ein Leuchtturm an der nahen Küste, dessen einsamer Strahl jede Nacht verirrten Fischerbooten in dem dichten Nebel den Weg nach Hause weisen sollte. Ursprünglich war es ein Fischerdorf gewesen, doch mittlerweile waren weniger als Zehn der Anwohner noch mit ihren Booten unterwegs, der Rest arbeitete zuhause oder wartete auf den nächsten Scheck vom Sozialamt. Willkommen in meiner Welt.
Doch zurück zu besagtem Tag. Ich war in dem Postamt und wartete in der Schlange darauf, dass ich an der Reihe war. Da der Laden nur selten geöffnet war, gab es trotz der wenigen Anwohner einen erstaunlichen Andrang und an diesem Tag standen fünf andere Leute vor mir. Meist musste man sich dann mit den anderen Dorfbewohnern unterhalten, doch heute habe ich mich dank den Kopfhörern meines mp3-Players vor dem Smalltalk und Klatsch drücken können, der mich immer langweilte. Manchmal komme ich mir in diesem Dorf – und vor allem dem Postamt, das nebst der Kneipe der wichtigste soziale Versammlungsort war – vor wie der Panther in Rilkes Gedicht, in einem viel zu beengtem Umfeld praktisch eingesperrt und geistig in Bedeutungslosigkeit versumpfend. Ja, solche Metaphern geistern einen im Kopf herum, wenn man in Deutschland ein Literaturstudium absolviert hat. Und es war ein langer Weg gewesen, von der Universität in Stuttgart bis zu dem kleinen Dorf an der Küste, in dem sich kaum jemand noch große Sorgen um seine Zukunft machte. Wie genau ich hierhin kam spielt keine Rolle mehr, denn nun sitze ich hier fest, zusammen mit den verlorenen Seelen der englischen Küste. Der langen Rede kurzer Sinn: Ich bin etwas über dreißig, einigermaßen intelligent und sitze in einem Ort fest, in dem ich nicht mehr sein will und erledige in meinem Home Office langweilige Buchhaltungsarbeiten für ein grösseres Unternehmen. Ich würde nicht mal allzu schlecht aussehen, doch davon erkennt man nichts, da wegen dem beißenden Wind alle dicke Kleidung tragen; von Daunenjacken, die einen wie Kugelfische aussehen lassen bis hin zu Socken, die mehr gepolstert scheinen als meine Couch. Nun, ich denke, dass ich damit das faszinierende Leben in diesem Ort zur Genüge beschrieben habe, fehlt bloß noch zu erwähnen, dass mein grösster Kick darin besteht, mit einem alten und rostigen Stück Draht als Dietrich in der Nacht in den Leuchtturm einzubrechen, hochzuklettern und oben einige Kekse zu knabbern.
So wirklich bewusst wurde mir mein Unwohlsein erst, als ich an besagtem Tag, vor etwas mehr als einer Woche, in dem engen und stickigen Postamt stand, dessen Schalterraum leicht nach Schweiß und Schimmel roch. Ich warf einen Blick auf die Schlange vor mir, allesamt Leute, die ich vom Namen her kannte. Auch hier kann ich mir lange Erklärungen sparen, da waren zwei Fischer, die kaum genug verdienten, um sich selbst zu ernähren, der Vater der jungen Einwandererfamilie, der im Supermarkt im Nachbardorf arbeitete und die vierzigjährige Sozialhilfeempfängerin, die es längst aufgegeben hatte, jemals wieder einen Job zu finden. Während ich also mein Blick über diese chaotische Anhäufung menschlicher Existenzen wandern ließ, begriff ich, dass ich nicht bloß nicht hierhin gehörte, sondern auch nicht mehr hier sein wollte. Dieser Ort war nicht mein Zuhause, war es noch nie gewesen, bloß eine weitere Station auf einer langen und chaotischen Reise, die mich alle paar Jahre weiter quer durch Europa führte. Ich war und bin kein Landmensch und ich begann die Situation hier mit jedem Monat trister, beengender und unausweichlicher zu empfinden während der Drang in mir wuchs, von neuem wegzulaufen; wie du wahrscheinlich vor langer Zeit begriffen hast, tue ich das mein ganzes Leben schon. Doch was sollte ich schon anderes machen, wenn mich die Sinnkrise von neuem einholt? Ich werde sicher nicht plötzlich der Magersucht verfallen und so enden wie meine frühere Schulkollegin, erstickt an ihrem eigenen Erbrochenen. Und auch wenn ich es dank meinem Aussehen wohl könnte, ich werde mich auch nicht wie ein Teenager nur noch in Pink kleiden und so tun als wäre ich jünger als ich tatsächlich bin, währendem ich durch Clubs streife. Und nein, ich will auch nicht heiraten und eine Familie gründen, das wäre genauso wenig mein Ding. Ich suche etwas anderes, etwas mit mehr Substanz, wenn ich auch nicht die geringste Ahnung habe, was das sein soll. Doch jeder fängt mal klein an, und darum habe ich mich entschieden, heute meine Sachen zu packen, meinen Job zu kündigen und mich in den nächsten Zug nach London zu setzten. Klar, ich gebe mal wieder alles auf, lasse einen Haufen von emotionalem Ballast zurück und muss wieder bei Null beginnen, genauso wie es bisher alle vier Jahre gewesen war. Mit jedem Mal fällt mir die Ungewissheit und Unsicherheit schwerer, doch ich will dahin, wo das Leben ist, das hektische und chaotische Leben, vor dem ich vor einigen Jahren weggelaufen bin.
Ich hinterlasse dir, lieber Nachbar, diese Zeilen, weil du in diesem Dorf die beste Unterhaltung für mich gewesen bist, die ich mit hatte wünschen können. Doch auch wenn ich Stunden mit den von dir ausgeliehenen Klassikern verbracht habe: Dieser Ort ist nicht mehr mein Zuhause. Also wünsche ich dir alles Gute und vermache dir meine kleine Bibliothek, die leider nicht in meine Reisetasche passt, während ich mich auf den Weg zur nächsten Version meines Ichs mache und dort auf die nächste Sinnkrise warte, die mich hoffentlich erst in einigen Jahren einholen wird.
In Freundschaft,
deine Jane