Ralf lehnte mit seinem schmalen Rücken und angezogenen Beinen an den nach Großmutters Mottenkugeln duftenden Mantel, der schon seit Jahren nicht mehr getragen wurde. Angespannt starrte der Junge auf den einzelnen, warmen Lichtstrahl einer Glühbirne, der durch den schmalen Spalt fiel, da wo die Tür nicht ganz abdichtete. Normalerweise gefiel es ihm, sich in dem Kämmerchen zu verstecken, sei es, weil er spät aufblieb, um zu lesen oder weil Mami und Papi sich mal wieder stritten. Ralf mochte es nicht, wenn seine Eltern sich zankten. Wenigstens hatte er schnell begriffen, dass sie sich stets versöhnten und ihm Mami danach sogar ein Eis brachte, wenn das Geld reichte.
Diesmal war alles anders, denn der Mann unten im Wohnzimmer war ein Fremder. Seine sonore Bassstimme wechselte sich mit der von Papa ab, klang bestimmt, Ungemach verkündend. Papa dagegen, der zu Beginn lauthals protestierte, wurde zusehends leiser, eingeschüchterter. Oder bildete sich das Ralf nur ein? Sein kindlicher Instinkt verriet dem kleinen Jungen, etwas war alles andere als gut, nur konnte er beim besten Willen keine ganzen Worte verstehen, das Haus war alt, nur leider nicht alt genug.
Ein Tag war vergangen, seit Papa von dem Fremden in der olivgrünen Jacke abgeholt worden war. Zwar hatte er gesagt, er ginge auf einen Angelausflug und sein Sohn solle ihm „Petri Heil“ wünschen, aber Ralf hatte die bedrückte Miene seines alten Herrn sehen können, als dieser in den schmutzigen Jeep kletterte. Mama hatte geweint und Mama weinte nie, wenn Papa Fischen fing. Nun versteckte sich Ralf wieder in dem Kämmerchen, damit er seine Mutter nicht weinen sehen musste.
„Kleiner?“, erklang es von draußen und bevor er etwas unternehmen konnte, stieß sie auch schon die Tür auf und ließ Stäubchen in dem Lichtstreifen der Nachmittagssonne tanzen. Sie weinte nicht, sondern zeigte ein aufgesetztes Lächeln, das ihre Sorgenfalten bestenfalls in Ansätzen kaschierte. In der Hand hielt sie eine Kuchengabel, vermutlich hatte sie sich beim Backen entscheiden, nach ihrem Jungen zu sehen. „Hallo mein junger Mann“, begann sie und kniete sich vor ihm hin. „Manchmal muss man aus dem Einbauschrank auftauchen und etwas Kuchen naschen, weißt du?“
Ihre Stimme war brüchig, sodass Ralf keine Zweifel hegte – der Mann in der olivgrünen Jacke hatte Papa mitgenommen, vielleicht für immer. Nur wohin? „Wo ist Papa?“, verlangte er zu wissen.
Mama seufzte, rang sich aber schließlich zu einer Antwort durch: „Du weißt ja, wir streiten uns manchmal, ja? Jetzt stell dir vor, dass sich ganze Länder streiten …“
„Sei keine Miesmuschel“, hatte Ralf früher oft von Mama gehört – nicht in den letzten Monaten. Nicht, seit sie in der Nacht das Licht ausmachen mussten und Feuer vom Himmel auf die entfernte Stadt niederregnete. Nun sagte der Junge es sich selbst, wenn er sich in seinem Kämmerchen einschloss, um die verwüstete Welt da draußen nicht zu sehen. War Papa irgendwo in dem Feuer, den Explosionen, die wie Gewitter, nur viel schlimmer, klangen? Mama wusste es nicht, sagte nur, er sei an der Front, nur wo und was war die Front? Wenn jemand in den Krieg zog (ja, Ralf war stolz, denn er wusste nun, was ein Krieg war), musste er nicht da sein, wo die Bomben einschlugen, also in diesem Fall zuhause?
Na, immerhin meinte Mama, es sei gut, dass sie auf dem Lande wohnten, denn hier gab es nicht genug Menschen, um Soldaten anzulocken. Essen gab es auch nicht genug, wahrscheinlich weil sie das für all die Soldaten brauchten. Hauptsache dieser Krieg wäre schnell vorbei, die Länder würden sich versöhnen und am Ende Papa ein Eis kaufen, zur Belohnung, weil er sich diesen Quatsch aus der Nähe ansehen musste!
Mama trommelte an die von innen verriegelte Tür, panisch, laut. Seit Papa weg war, schlief Ralf heimlich in seinem stillen Kämmerchen, da wo ihn der Krieg nicht erreichen konnte. Wie sollte der Krieg schon hereinkommen, wenn abgeschlossen war? Außerdem waren sie auf dem Lande und wie Mama vor einiger Zeit erklärt hatte, regnete es deshalb kein Feuer vom Himmel – auf dem Lande war einfach alles besser.
„Junge, komm raus!“, brüllte sie in die Dunkelheit, etwas musste alles andere als gut sein. Hier drin war er sicher vor all den Gefahren, musste sich keine Sorgen machen, es konnte ihm nichts geschehen. Wieso also wollte ausgerechnet Mami, dass er herauskam?
Die Tür erschütterte, als seine Mutter kraftvoll dagegentrat und ungewohnt tief befahl: „Der Feind kommt, wir müssen fliehen!“
Wer war der Feind? Sicher einer von den Kerlen dieses anderen Landes, mit dem Ralfs Land am Zanken war. Kindische Länder! „Nein Mama, in unserem Versteck sind wir sicher“, protestierte Ralf voller Wehleidigkeit. Selbst der aufgebrachten Frau sollte klar sein, sie durfte ihm nicht seinen einzigen sicheren Ort nehmen. Das Schloss erzitterte, Sägemehl oder Staub rieselte hinunter. Der Junge begriff, er musste aufmachen, also schob er den schweren, hölzernen Riegel zurück.
„Papa“, begann Fritz, der seinen roten Spielzeug-BMW zur Seite legte, „wieso sind wir eigentlich in dem Kämmerchen?“
Ralf lächelte matt und fuhr bedächtig durch seinen Bart, manche Erinnerungen sind schwer zu erzählen. „Weißt du, Sohnemann, Großmutter erzählt ja manchmal, wie früher Krieg herrschte. Damals war ich so alt wie du heute und habe mich hier drin versteckt.“
„Jetzt ist aber nicht Krieg, also musst du dich nicht verstecken“, tadelte ihn Fritz mit ernster Kindermiene.
Der Vater konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen. „Ich weiß. Mich hat es nur an alte Zeiten erinnert …“ Er wuschelte seinem Sohn durch das strubbelige Haar. „Weißt du was? Wir gehen spazieren und holen dir ein Eis im Dorf, es ist so ein schöner, sonniger Tag!“
Mit einem freudigen Jauchzen sprang Fritz auf. Plötzlich hielt er ganz ernst inne und fragte: „Und, hat es funktioniert, das Verstecken?“
„Natürlich“, antwortete der Vater, als er die Tür hinter ihnen schloss. „Der kleine Raum war zwar für mich und Großmutter etwas eng, doch gefunden hat uns niemand.“