Faul lag einst ein Käuzchen im hohen Gras vor dem Wald und musterte mit glänzenden Äugelein den Himmel. Die Blätter der Baumkronen ließen an diesem wunderhübschen Sonntag bereits mehr Sonnenstrahlen durch, als gestern und der Wind erschien dem Vögelchen gar frostig im Vergleich zu den letzten Wochen. „Der Sommer geht bald vorbei“, fiepte es traurig vor sich hin. „Ach, du lieber Sommer, weshalb bleibst du nur so kurz?“
„Bald kommt der Herbst und bringt schillernde Farben mit sich“, erklärte des Käuzchens Großmutter lächelnd, aber der Sprössling wollte sich nicht darauf freuen.
„Ich will keinen Herbst. Der Sommer gefällt mir viel besser, ist er doch herrlich warm. Sogar der Flug zum Horst ein Genuss ist“, maulte das Käuzchen trotzig. Seufzend setzte es sich auf seinen flaumigen Hintern, wackelte mit dem Federschwänzchen und trällerte dann lobend: „Im Sommer ist das Baden überhaupt nicht schlimm, das Wasser leuchtend klar, die Wiesen saftig grün. Ja, im Sommer bleibt der Wald stets lange hell, zu gruseln braucht man sich nie.“
„Käuzchen“, griff die große Eule gutmütig ein. „Du bist noch so winzig, hast den Herbst bislang im Ei verschlafen. Bist du denn nicht gespannt auf seine Schönheit?“
„Nein!“, flattert das Käuzchen widerborstig. Es hatte keine Lust, den kargen Herbst kennenzulernen, war sicher, dieser wäre nass und kühl, gleich dem Frühling, den es aus der Nisthöhle heraus beobachtet hatte. „Ohne den Schutz des Sommers kehrt der eisige Regen zurück, den will ich nicht, der ist doof.“
„Naja“, machte die Großmutter, bevor sie sich ebenfalls aufsetzte, ihr Federkleid glattstrich und einen Flügel um das Käuzchen legte. „Es stimmt schon“, gab sie bereitwillig zu. „Im Herbst gibt es freilich mehr als bloß Regen, es gibt auch Nebel und Reife, weißt du. Das eine zaubert die Himmelswolken in den Wald hinunter, das andere glitzert im Morgenlicht wie Sterne.“ Die Alte schwärmte vom Herbst, kannte nur gute Worte für den Vertreiber des Sommers.
„Das ist bestimmt grausig kalt, schauerlich scheußlich“, protestierte das Käuzchen. Mit kindlichem Starrsinn ins Gesicht geschrieben, drehte es sich von der Großmutter ab und zählte zarte Kleeblättchen. Fände es eine Pflanze mit vier, statt der üblichen drei, so hatte es gelernt, könnte es sich den Sommer für die Ewigkeit herbeiwünschen. Die graue Dame wartete einen Augenblick ab, rutschte dem Enkel hinterher und streckte den Flügel zu einer neuerlichen Umarmung aus. Den Schnabel zur Schnute ziehend, hielt sie inne.
„Sei halt griesgrämig.“ Zufrieden sah sie, wie das Käuzchen ein wenig zusammenzuckte. „Der Natur ist es ohnehin einerlei, ob du ihren Wandel begrüßt oder die Vergangenheit beweinst.“ Nun schien sie seine Aufmerksamkeit geweckt zu haben. Aufgebracht hüpfte der Spross auf seine Beinchen und begann zu zetern.
„Das ist mir egal! Soll die Natur machen was sie will, ich mache auf jeden Fall nicht mit.“ Kaum hatte das Käuzchen das gesagt, lachte die Alte von Herzen los und brachte es damit weiter in Rage. „Ihr seid ja selber schuld, wenn ihr der Natur diese Launen zugesteht. Nicht mit mir, nein, ich behalte den Sommer und damit basta!“ Während sich die Großmutter vor Heiterkeit kugelte, stakste das gefiederte Kind gekränkt davon. Es dauerte eine Weile, bis die Graue die Flucht bemerkte. Die Lachtränen aus den riesigen Augen reibend, stieg sie empor und begab sich auf die Suche nach ihrem störrischen Kindeskind.
„Ein Witz ist das, ein Witz!“, wetterte das Käuzchen und trat ein Steinchen vor sich her. „Wenn ich den Sommer will, dann lass ich ihn mir nimmer entreißen.“ Entschlossen der Natur die Stirn zu bieten, hackte es mit dem Schnäbelchen ein Ästchen vom Weidenstrauch. Die Federbrust aufblähend fuchtelte es damit durch die Luft, als wäre sein Stöckchen ein waschechtes Schwert. „Hörst du, Natur, du kannst mir mit deinem doofen Herbst gestohlen bleiben.“ Just in dem Moment, als das Käuzchen einen Kampfesschrei durch den Wald rufen wollte, vernahm es ein grässliches Schnauben.
„Was soll der Terz?“, brummte ein Unbekannter aus dem Dickicht. Sogleich schlug das Käuzchen mit den flauschigen Flügelchen, vergaß im Schreck, sein Schwert fallenzulassen und so verlor es das Gleichgewicht. Unsanft landete es auf einer Baumwurzel. Das Gebüsch raschelte, gefährlich bog sich das Geäst, sodass das dem Käuzchen Angst und Bange wurde.
„Friss mich nicht!“, flehte es. „Ich schmecke ganz fürchterlich.“
„Fressen?“, ertönte es köstlich amüsiert, als der Bär sich schüttelnd vom Astwerk befreite. „Zum fressen ist ein Käuzchen wie du viel zu gering. Nicht einmal ein richtiger Happen vor dem Abendessen. An dir ist bloß das Mundwerk groß.“ Er streckte und reckte sich, kratzte seinen mächtigen Rücken an einem Baumstrunk, ehe er sich erkundigte: „So, so, du willst der Natur bockig kommen?“
Mit neugefasstem Mut plusterte sich das Vögelchen auf, nickte und stolzierte auf den mächtigen Waldbewohner zu. „Die Natur will mir den Sommer nehmen, so soll sie mich am A…“
„Stopp!“, unterbrach der Bär mit zornigen Falten auf der Stirn. „Ein Narr bist du, ein frecher noch dazu.“ Empört über die Schelte, stellte sich das Käuzchen auf die Zehenspitzen, zog allerdings rasch das Köpfchen ein, weil der andere sich über ihm aufbaute und donnerte: „Der Natur hat man Respekt zu zollen, sie ist der Anfang und das Ende von uns allen. Sieh dich um.“ Das Käuzchen, eingeschüchtert vom bedrohlichen Bären, linste nach links, rechts, oben, schließlich unten. „Na und?“, forderte es zu erfahren, da deutete der übermächtige Kerl auf ein Erdloch zwischen zwei Wurzeln. Von der Neugier sowie der Annahme getrieben, der Bär würde es für Ungehorsam bestrafen, guckte es hinein. Dank seinen Käuzchenaugen erkannte es sofort, was dort in der Finsternis zu finden war: Drei nackte Mäuschen, die an den Zitzen ihrer Mama tranken, daneben lag ein Skelett.
„Der Anfang und das Ende, wie ich sagte“, bestätigte der Bär den schrecklichen, gleichwohl wundervollen Fund. „Gegen die Natur kommt niemand an, auch kein Käuzchen.“ Er grinste breit, streckte sich neuerlich und wandte sich zum Gehen. „Auf Wiedersehen, vorlautes Käuzchen. Ich will mir nun ein paar richtige Happen fischen, ich habe noch reichlich zu fressen, bevor der Winter einbricht.“
Das Käuzchen verharrte lange bei dem Loch, betrachtete die Mäusemutter, wie sie ihre Kinder behütete. Seine Mama tat dasselbe, ebenso der Papa und die Großmutter kümmerten sich um das Käuzchen. Niemals hatte es sich gefragt, warum dem so war. Ohne Scheu tummelten sich die nackten Mäuschen spielend neben dem Skelett, hatten anscheinend weder Furcht noch Ahnung vom Tod und selbst das Käuzchen wusste sehr wenig über diese unausweichliche Macht.
„Da bist du“, schnaufte eine vertraute Stimme hinter ihm. „Dass du mir nicht nochmal so davonfliegst. Ich habe mir Sorgen gemacht.“
„Nana“, krähte das Käuzchen. „Es tut mir leid.“ Erstaunt über die schnelle Läuterung des sonst so eigensinnigen Sprösslings, blinzelte die Graue, ehe sie ihm wohlwollend über das Gefieder strich. Sie war froh, das Kleine einsichtig zu erleben, hatte schon befürchtet, die Tiraden über den Herbst gingen weiter, wie bei einer gesprungenen Schallplatte.
„Schon gut“, gurrte sie leise und nahm es in die Flügel. „Jetzt habe ich dich wieder.“
„Du, Nana?“, nuschelte das Käuzchen in den weichen Flaum der liebevollen Eule. „Weshalb bist du so lieb zu mir?“
„Weil du ein tolles Käuzchen bist“, gab sie prompt zurück. „Und weil es in der Natur von uns Käuzen liegt, unseren Nachwuchs zu hegen und zu pflegen.“
„In der Natur …“, murmelte das Käuzchen nachdenklich. „So wie der Tod?“
Die Großmutter blickte ihren Enkel erst bestürzt, dann gütig lächelnd an. „Oh mein Käuzchen, in der Natur gehört alles dazu. Das Schöne und das Traurige, das Warme und das Kalte“, klärte sie des Käuzchens Köpfchen streichelnd auf. „Alles hat seine Zeit, seinen Platz und wir dürfen an den hellen Tagen Kraft für die dunklen tanken.“
„Wenn der Sommer weg geht, bleibe ich warm?“, wollte es wissen und fügte aufgeregt hinzu: „Muss ich auch bald zum Skelett werden?“ Die Graue schmunzelte und drückte das Käuzchen fest.
„Wenn es dich fröstelt, hält dich deine Familie bis zum nächsten Sommer warm, genauso wird sie das tun, wenn eines fernen Tages der Tod vor der Tür steht. Keine Angst, kleines Käuzchen, das wird noch sehr lange dauern.“
„Na gut“, meinte es zufrieden. „So soll es eben Herbst werden. Mit dir, Mama und Papa will ich geduldig auf den Sommer warten und den Tod nie fürchten.“
Als die beiden, das Käuzchen mit seiner Großmutter, zur Lichtung spazierten, um sich dort auf die nächtliche Jagdstunde vorzubereiten, war die Alte stolz auf das Vögelchen, hatte es soeben eine wichtige Lektion gelernt. Plötzlich wirbelte es herum, strahlte sie wissbegierig an und flötete: „Wieso frisst der Bär eigentlich ständig so ausgiebig?“ Da war der grauen Eule klar, wenn das Käuzchen den Grund erfuhr, würde es sicherlich Winterschlaf halten wollen.