Ich öffnete ein Auge, was ich sofort bereute. Die Welt fuhr Karussell mit mir! Als es mir gelang, beide zu öffnen, erkannte ich über mir eine hohe, schmutzige Decke. Der kalte, muffige Geruch, die harten Dielen plus der Duft nach billigem Putzmittel verrieten mir – ich lag im Hausflur meines Mietshauses! Hämmernder Kopfschmerz raste durch meinen Schädel, löste von dort eine Welle der Übelkeit aus. Meine Zunge fühlte sich geschwollen an – der Geschmack in meinem Mund erinnerte mich an einen alten, angebrannten Topflappen. Ich hatte null Ahnung, wie spät es war. Hatten die Nachbarn gesehen, dass ich besoffen vor der eigenen Haustür herumlag?
Ich versuchte, mich aufzurichten, leider ich schaffte nur ein paar Grad, bevor ich wieder stöhnend auf den Rücken zurücksank.
„Das war peinlich“, sagte eine helle Stimme.
„Geradezu erbärmlich“, eine weitere.
„Das ist Blasphemie“, erklang eine dritte.
Ich riss erschrocken die Augen auf. Waren die Nachbarn gekommen, hatten den Schandfleck in ihrem Haus gefunden und lästerten über mich? Ich hob den Blick, entdeckte jedoch keine Menschenseele.
„Er hört uns, es klappt.“
Verwirrt blickte ich umher – der Flur war leer. Ich startete einen neuen Anlauf, mich aufzurichten. Auf den Ellenbogen abgestützt sah ich über meine Schuhe hinweg ins leere Treppenhaus. Auf der Kirmes am Rheinufer hatte ich zwei Kumpel getroffen, mit denen ich um die Häuser gezogen war, das wusste ich noch. An die genauen Alkoholmengen konnte ich mich nicht mehr erinnern.
„Oh Gebieter, erhöre deine Diener!“, ertönte es hinter meiner Stirn, im Rhythmus meines pochenden Kopfschmerzes, was sehr lästig war.
Unwillkürlich sah ich nach unten – und zuckte zurück: Drei schwarze Käfer saßen vor mir auf dem Fußboden, schienen mich, mit langen Fühlern wackelnd, anzusehen.
Igitt, dachte ich, waren die auf mir herumgekrabbelt, während ich hier herumgelegen hatte?
„Er hat uns endlich bemerkt“, erklangen wieder fremde Worte in mir.
„Scheiße“, murmelte ich, fasste mir stöhnend an die Stirn.
„Er spricht zu uns“, jubelte es in meinem Hirn.
„Na endlich!“
„Er hat Scheiße gesagt?“
Die drei Tiere vor mir wackelten aufgeregt mit den Köpfen.
Ich richtete mich weiter auf.
„Jetzt rede ich schon mit verdammten Insekten!“
„Da, hört ihr? Er hat es gesagt: Wir sind alle verdammt!“
Ich tastete meinen Schädel ab, um nach der Beule zu suchen, die ich haben musste. Sicher hatte ich eine Gehirnerschütterung, denn normalerweise hörte ich weder Stimmen, noch halluzinierte ich.
Die drei Käfer waren lang wie mein Ringfinger, kletterten unvermittelt übereinander, um vor mir ein Dreieck zu bilden, mit der Spitze zu mir. Es waren Küchenschaben, ohne Zweifel. Die an der Spitze hob das vordere Beinpaar, gleichzeitig entstanden Worte in meinem Hirnkasten: „So geht das keinesfalls weiter“.
Eine weitere Schabe hob die Beinchen.
„Etwas muss sich ändern.“
Und als die dritte mit den Fühlern zuckte, erklang: „Vergib uns, oh Herr.“
„Ihr könnt sprechen?“, krächzte ich skeptisch.
„Seitdem wir von der himmlischen Flüssigkeit tranken, können wir mit anderen Arten reden.“
„Himmlische Flüssigkeit?“, wiederholte ich, um das Gehörte zu verarbeiten.
„Ja, die grüne Flüssigkeit, die wir hinter dem Kühlschrank auf dem Boden fanden.“
Der Kühlschrank war vor ein paar Wochen ausgefallen, erinnerte ich mich, ich hatte extra den Service anrufen müssen. Ich hasste warmes Bier.
„Ihr könnt also Gedanken lesen“, stellte ich fest.
„Nein, nur die Worte, die du denkst, um sie auszusprechen. Alles andere bleibt ein Rauschen und Blubbern“ antwortete die erste Schabe.
„Ich bin übrigens Al-872. Die anderen heißen Tri-953 sowie der Bischof.“
Die Käfer drehten sich bei ihrer Nennung einmal um sich selbst herum.
„Wieso so komplizierte Namen?“
„Ich bin vom Alpha-Clan, das 72. Ei aus dem achten Gelege.“
„Aha, doch was ist mit dem Bischof?“
„Das Oberhaupt unserer Gemeinde der Gottesfürchtigen heißt immer so, aus Tradition.“
Es wurde ständig verrückter: Jetzt redete ich schon mit religiösen Küchenschaben. Was kam als nächstes?
„Okay, Jungs, sagt, wer ist euer Gott? Der heilige Müllmann?“
„Nein. Du bist es“, antworteten alle drei im Chor.
„Habt ihr auch gesoffen, oder was?“, rief ich würgend. Bitterer Biergeschmack füllte meinen Mund, wüste Gedanken meinen Kopf: Ich redete mit Insekten, die mich als Gott verehrten!?
„Oh Herr, hört mich an“, bat der Bischof-Krabbler unterwürfig.
„Du gibst uns Wärme, Licht, Dunkelheit und in grenzenloser Güte reichlich Nahrung. Durch deine Gaben konnten bereits Generationen von uns überleben.“
„Es ist schon ein Unterschied, an einem Stück Tapete oder an fallengelassener Pizza zu knabbern“, ergänzte Al-872.
Und Tri-953 sagte: „Naja, bis auf die von diesem neuen Lieferanten, die schmeckte wie Pappe!“
„Moment mal, Jungs. Mal abgesehen von der Kritik an der Speisekarte, ihr könnt reden, ich bin euer Gott – dazu vermutlich total übergeschnappt: Verdammt, was wollt ihr von mir?“
„Eigentlich kaum etwas, Herr. Ich bin glücklich, mit meinem Gebieter zu reden. Mein einziger Wunsch ist es, eines Tages wie mein Vorgänger Enden zu dürfen.“
„Was ist denn deinem Vorgänger widerfahren?“
„Er wurde vom heiligen Pantoffel erschlagen. Als er über den göttlichen Wohnzimmertisch lief.“
„Oh, na dann, Halleluja“, erwiderte ich. Vage kam mir die Erinnerung in den Sinn, vor einiger Zeit eine freche Kakerlake vor meiner Nase …
„Ignoriere diesen Kleingeist“, unterbrach Al-872 meine Gedanken und richtete sich auf den Hinterbeinen auf.
„Meinem Volk geht es schlecht. Die Pizza wird seltener, du trinkst nur. Außerdem finden wir kaum noch fressbares.“
„Ich knabberte gestern an einem Lederschuh, das war grässlich“, unterbrach Tri-953.
„Die Jugend beginnt, an Dir zu zweifeln“, fuhr Al-872 fort. „Sie wollen immer weniger an das große Lebewesen glauben, dass über sie wacht und Nahrung vom Himmel wirft.“
„Oh, diese Frevler, möge sie alle der Pantoffel treffen“, flehte der Bischof.
„Meine Sippe weigert sich schon, zu den Gebetsversammlungen zu gehen. Wir, die ältere Generation, verlieren langsam die Kontrolle.“
„Genau, es muss sich etwas ändern. Lederschuhe, igitt!“
„Aha. Was denn, eurer Meinung nach?“, fragte ich.
„Du musst aufhören, zu saufen“, ertönte es von Al und Tri im Chor, während der Bischof jammernd auf den Bauch sank:
„Vergib uns, Herr.“
Entrüstet richtete ich mich auf.
„Na, ihr zwei seid mir ja ein paar schöne Gläubige!“
„Es fällt schwer an einen Gott zu glauben“, offenbarte Al-872, „der schnarchend auf dem Fußboden herumliegt – dazu noch sabbernd.“
„Die Gläubigen brauchen Respekt“, sagte der Bischof erregt. „Wenn sie Ehrfurcht empfinden, kann man ihnen sagen, was sie tun und lassen sollen. Das ist Ordnung! Ohne gibt es nur Chaos, das ist schlecht für unser Volk.“
Beleidigt dachte ich: Jetzt muss ich mich schon vor meinen eigenen Schädlingen rechtfertigen!
„Letztlich ist es egal, ob ich wirklich ein göttliches Wesen bin? Hauptsache, man gehorcht euch?“
„Genauso ist es“, antworteten alle drei Schaben im Chor. Danach krabbelten sie aufeinander zu. Sie berührten sich mit den Fühlern, wie Basketballspieler, die sich nach einem gelungenen Angriff abklatschen.
Ich starrte sie wütend an und hätte viel für den göttlichen Pantoffel gegeben.
Aber die Käfer hatten durchaus recht. Seit ich meinen Job und gleichzeitig meine Freundin verloren hatte, war es bei mir schlecht gelaufen. Ich trank beständig mehr, um mein Elend zu vergessen, bis zur Bewusstlosigkeit.
Und nun? Nicht nur unfähig im Job wie in Beziehungen, nein, selbst als Gottheit einer Kakerlakenkolonie versagte ich. Oder sollte ich endlich mit dem Selbstmitleid aufhören? Diesen Gedanken hatte ich schon länger, aber die Promille boten eine angenehme Vertröstung auf morgen. „Heute trink ich, morgen denk ich“, war mein Leitspruch.
Ich legte mich auf den Rücken, starrte dabei auf die Spinnweben an der Decke.
„Ihr habt recht“, flüsterte ich nach einer Weile. „Die Gläubigen haben einen Gott verdient, den man respektieren kann. Jeder sollte mehr Verantwortung für sich selber tragen, denn dann hilft man auch anderen.“
Die Übelkeit hatte nachgelassen, ebenso der Schwindel. Die Welt hatte aufgehört, sich nur um mich zu drehen. Ich schloss kurz die Lider, atmete durch. Als ich mich nach einigen Atemzügen aufrichtete, verkündete ich dem Hausflur: „Ich werde mein Leben ändern. Ich muss es wieder aktiv in die Hand nehmen statt es im Suff zu ertränken. Ihr Schaben habt mir geholfen, daher werde ich euch auch helfen.“
Da die Kommentare ausblieben, blickte ich zum Dielenboden. Ich sah – nichts, keine einzige Schabe. War ich unbemerkt eingenickt? Mir wurde plötzlich eiskalt. Womöglich hatte ich alles nur geträumt?
Ich rappelte mich auf, zuerst auf alle Viere, dann zog ich mich an der Wand hoch, bis ich aufrecht stand. Mühsam kramte ich meinem Hausschlüssel aus der Hosentasche, torkelte zur Tür gegenüber und schloss ungeschickt meine Wohnung auf.
Mein Flur war still, dunkel, leer, so wie ich ihn verlassen hatte. Ich knipste das Licht an, blinzelte, horchte. Doch ich hörte weder kratzende Insektenbeine noch sah ich umherhuschende Käfer. Ich schloss erleichtert die Tür, gleichzeitig warf ich meinen Schlüssel auf den Telefontisch.
Wankend erreichte ich mein Bad, um mir Wasser ins Gesicht zu spritzen. Dabei vermied es tunlichst, in den Spiegel zu sehen. Vom kalten Nass erfrischt, schlurfte ich zurück in den Flur. Kein Geräusch war zu hören, trotzdem erfasste mich eine seltsame Unruhe. Langsam ging ich den Gang entlang bis zur hölzernen Küchentür. Ich dachte an die drei Schaben in diesem sehr lebhaften Traum. Ich schnaubte, verwundert über meine Fantasie, gleichzeitig öffnete ich die Tür. Das Flurlicht warf ein helles Trapez auf den Küchenboden. Vermutlich riss genau das die lichtscheuen Wesen aus ihrer Starre.
Denn im selben Moment setzten sich tausende rotbrauner Schaben in Bewegung, die den ganzen Boden bedeckten. Statt hektisch wegzulaufen, bewegten sie sich in einem eigentümlichen Rhythmus über das Linoleum. Viele hielten sich paarweise an den Vorderbeinen gepackt, um sich gegenseitig über den Boden zu schieben wie kleine argentinische Tanzschüler, die einen Tango einübten. Oben auf meinem Kühlschrank entdeckte ich drei größere Exemplare, die eilig am Rand umherliefen. Mit ihren langen Fühlern schienen sie das Spektakel am Boden zu steuern, bereits nach wenigen Minuten bildete das raschelnde, lebendige Chaos feste Muster. Diese verdichteten sich zu Buchstaben, gebildet aus braunen Insektenleibern. Mit offenem Mund las ich, was die tanzenden Kakerlaken vor mir schrieben:
„Wir grüßen und preisen unseren Gott.“
Als ich begriff, was diese Zeichen bedeuteten, gingen bei mir die Lichter aus. Noch im Fallen glaubte ich, in meinem Kopf, zwischen meinen Augen, drei fremde Stimmen zu hören.
„Jetzt liegt er gleich wieder“, rief die Erste.
„Lobet den Herrn“, die zweite.
Und die letzte sagte nur: „Amen!“