Katharsis

Diese Story ist auch als Hörgeschichte erschienen.

Ungefähr zwei Monate war es her, seit Axel auf die Nordseeinsel gezogen war. Ein kleiner Hubbel, der aus dem Meer ragte, mit einem Namen, den er sich unmöglich merken konnte. Der neue Leuchtturmwärter nannte sie daher einfach die Insel und war damit vollauf zufrieden.
Gutgelaunt pfeifend erhob sich Axel vom Frühstückstisch und trug den verkrümelten Teller zum Spülbecken – er nahm sich vor, sich abends, wenn er aufstand, darum kümmern. Bislang hatte Axel sich gut an den verkehrten Tagesablauf gewöhnt, nur seine Mahlzeiten waren noch verkehrt: Er aß sein Frühstück vor dem Zubettgehen, doch er war zuversichtlich, dass sich auch dieses letzte Überbleibsel seines alten Lebens bald änderte. Ein lautes „Kuckuck“ hallte durch die leere Küche, die Uhr zwitscherte acht. Die ersten Strahlen Sonnenlicht drangen durchs Fenster – eigentlich Zeit, sich hinzulegen. Dummerweise spielte ihm seine innere Uhr Streiche, also wollte er im Schuppen noch eine Weile seinem Hobby nachgehen.
Draußen war die Brandung des Meeres zu hören, Axels stetiger Begleiter auf der Insel. Der Wind zerzauste sein Haar, er atmete tief ein und genoss den jungen Tag, überzeugt, der Umzug hierhin war die richtige Entscheidung gewesen. Die Einfachheit war befreiend, passte du dem Zustand der Katharsis, der er die letzten Monate verspürte. Axel öffnete die morsche Tür und trat in den Schuppen, wo seine mehrheitlich halbfertigen Kuckucksuhren auf einem Hobeltisch lagen. Eine halbe Stunde mit seiner liebsten Freizeitbeschäftigung, danach fiele ihm das Einschlafen leicht.

Das impertinente Klingeln seines Weckers riss Axel aus dem Schlummer. „Mistverdammtekacke…“ fluchte er, drückte schlaftrunken auf dem Handy herum und wuchtete sich anschließend aus dem knarrenden Bett. Als er den Vorhang aufzog, sah er den frühsommerlichen Sonnenuntergang – wie immer wundervoll. Dann wandte er sich ab und ging die Zähne putzen.
Mit der Zahnbürste im Mund marschierte er die Treppe hinunter ins Erdgeschoss, um sich einen Kaffee aufzusetzen. Kaum stellte er den Pott auf den Herd, glaubte er, in seinem Kopf habe sich ein Schalter umgelegt: Er hatte Lust aufs Frühstück, nicht aufs Abendessen. Da war er, der Moment, auf den er schon so lange gewartet hatte, sein Hirn hatte den verdrehten Tagesrhythmus akzeptiert! Nun passte gar sein Alltag perfekt zur neuerdings omnipräsenten Katharsis.
Beschwingt eilte er zurück ins Badezimmer, spuckte aus und wünschte sich, um die Uhrzeit und weg vom Festland irgendwo frische Croissants auftreiben zu können. Als er es sich vor seiner dampfenden Tasse am Tisch bequem machte, war er so entspannt, wie er es nur vom Leben auf der Insel kannte. Herzhaft biss er in sein Marmeladenbrot und nahm das Smartphone zur Hand. Auch wenn er die Abgeschiedenheit zu schätzen wusste, war er trotzdem froh, stand auf dem nahen Festland eine Handy-Antenne. Axel öffnete das Browser-Tab, in dem er jeweils die Nachrichten streamte, aktualisierte die Seite und klickte auf das „Play“-Symbol der neusten Tagesschau. Während Neuigkeiten aus aller Welt den Raum erfüllten, genehmigte sich Axel einen weiteren Bissen und Krumen regneten auf den alten Holztisch. Der Krieg in Syrien wurde diskutiert, als er in der Mitte seines Frühstücks angelangt war, er auf dem weichen Inneren seines Brots kaute. Die Kruste, an dem er das Brot gehalten hatte, war bereits hart, da wurde von Luftschlägen gegen den Iran erzählt. Beim letzten Schluck Kaffee ging es um Streit in der Bundesregierung, beim ersten Zug an der Zigarette um den Serienkiller von Berlin.
Interessiert verfolgte er das Programm, es gab hier draußen vor seiner Spätschicht nichts zu tun. Seit zwei Monaten seien dem Mörder keine Jugendlichen mehr zum Opfer gefallen, die Stadt könne aufatmen, behauptete der Nachrichtensprecher. „M-hm“, brummte Axel, den Rauch zur Decke blasend. Dreiundzwanzig Leben habe der Killer ausgelöscht, man hoffe, die Mordserie sei vorüber. „Sechsundzwanzig“, murrte Axel und räumte den Tisch ab. „Ist ja wohl nicht mein Fehler, wenn die nicht alle finden.“ Ja, sechsundzwanzig Teenagern hatte der unscheinbare Herr in mittleren Jahren das Messer in die Brust rammen müssen, bis es vorüber war. Er fragte sich selbst, wieso Teenager – tja, wieso nicht? Sie hatten ihr Leben vor sich, eine Tatsache, die ihm Befriedigung gab. Inwiefern veränderte er die Welt schon, wenn er einen fünfundneunzigjährigen Rentner ermordete? Dann, nach der Nummer Sechsundzwanzig, war mit einem Mal alles anders – ohne einen für Axel ersichtlichen Grund. Der Drang, die Anspannung, die Wut, alles hatte sich gelegt, war in einen kathartischen Zustand übergegangen. Und da hatte er begriffen, dass seine Chance gekommen war. Er hatte diese Stelle an der Nordsee angenommen, weitab von allem – und war frei.
Derweil berichtete der Nachrichtensprecher, die Polizei sei dem Killer auf den Fersen, würde ihn früher oder später dingfest machen. Gleichgültig zuckte Axel mit den Schultern. „Und wenn schon.“ Die Insel war vermint, jeder, der hier landete, lief Gefahr zu explodieren. Außerdem, käme jemand während seiner Schicht, hätte Axel das Scharfschützengewehr seines Großvaters. Alt, aber präzise, ein wahres Meisterwerk deutscher Fabrikationskunst. Nein, nichts und niemand könnte ihm sein Glück oder seine Kuckucksuhren vermiesen, so viel stand fest.

Autorin: Sarah
Setting: Nordseeinsel
Clues: Kuckuck, Sonnenlicht, Hobeltisch, Browser-Tab, Einfachheit
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