Diese Story ist auch als Hörgeschichte erschienen.
Diese Geschichte spielt im erweiterten Universum „Nach Hause“.
„Bist du über Algerien oder Mauretanien gekommen?“, erkundigte sich Mouddour, während wir die Ladung neu festzurrten, die sich bei unserer Verfolgungsjagd gelockert hatte. Sein französischer Akzent war charmant und sein Englisch besser als das von so manchem Edelmann seines Landes.
„Weder-noch, ich kam über Burkina Faso.“ Ich gab nur ungerne Auskunft über das, was ich tat, aber manchmal war es unvermeidlich ein wenig über sich zu erzählen, um mit den Einheimischen zurechtzukommen. „Ich kenne dort jemanden, der ein Flugfeld betreut.“
„Ah“, gab der junge Mann nickend von sich, warf einen der Kanister neben Aïchatou auf den Rücksitz und lächelte das Mädchen so aufmunternd an, wie es ihm unter den Umständen eben möglich war. Danach ließ er die Tür ins Schloss fallen und wandte sich flüsternd an mich: „Bist du über Douentza gereist?“ Die neusten Ausschreitungen lagen nur wenige Tage zurück, dieses Mal forderte der Krieg neben den zivilen Opfern vor allem Tote auf der Seite der Ganda-Iso-Miliz. Mir war es einerlei, welche Partei des Konflikts Menschenleben verlor, so wie immer, wenn ich für solche Operationen angeheuert wurde. Das Leid derer, die mit Waffen hantieren, interessierte mich nicht.
„Ich habe die Region Mopti so gut es ging gemieden“, erklärte ich stoisch und wünschte, Mouddour würde es dabei belassen.
„Dein Freund, der in Burkina Faso, kann der uns …“ Sein nervöser Blick zum Wagen verriet mir, worauf der hagere Tuareg hinaus wollte; er hoffte, ich würde ihn und seine Nichte außer Landes schaffen können.
„Nein“, beantwortete ich seine unausgesprochene Frage kalt. Mouddour atmete langsam aus und lächelte mich dann traurig, aber verständnisvoll an.
„Natürlich“, meinte er, ehe er den nächsten Kanister packte und ihn mit einem Spanngurt festband.
„Tut mir leid.“ Es war nicht meine Art, mich bei anderen für Dinge zu entschuldigen, die nichts mit mir zu tun hatten, dennoch hatte ich den Eindruck, dass ich wenigstens etwas Mitgefühl für die Situation der beiden zeigen sollte. Auch, wenn es nur vorgetäuscht war.
„Kein Problem, Diego, wir schaffen das schon.“ Seine Worte klangen wenig optimistisch und ich konnte es ihm nicht verübeln. Egal ob sie nun von der malischen Armee oder einer der islamistischen Gruppierungen aufgegriffen wurden, Mouddour würde in den Kampf gezwungen werden, während Aïchatou die Zwangsheirat bevorstand. Aïchatou war sechs, so alt wie Aisha gewesen war, als sie zur Lieblingsfrau des Propheten wurde. Sie saß mit gesenktem Haupt hinter der Doppelverglasung ohne sich auch nur einen Zentimeter zu bewegen, hatte sie doch gelernt, sich stets ruhig zu verhalten; eine Fähigkeit, die ihr Zukünftiger wohl schätzen wird.
„Vielleicht“, begann ich nuschelnd, fuhr mir mit schwieligen Händen übers Gesicht und sah mich eine Weile schweigend im zertrümmerten Autobahntunnel um, ohne zu wissen, was ich als nächstes sagen sollte. „Vielleicht kann ich mit ihm reden“, versprach ich dem Mann, der mir gestern Abend das Leben gerettet hatte, obschon ich wusste, wie aussichtslos das Unterfangen war. Mein Freund, besser gesagt, der Freund meines Auftraggebers, ließe sich bestimmt nicht davon überzeugen, einen achtzehnjährigen Niemand und seine Nichte aus dem Land zu schleusen. Es war eine Lüge, allerdings eine, die mir versicherte, dass mein neuer Gefährte nicht mitten in der Nacht ohne mich weiterfuhr.
„Willst du das für uns tun?“ Beim Anblick von Mouddours aufrichtiger, tiefgreifender Freude formte sich ein schwerer Klumpen in meiner Magengrube. „Sei gesegnet, Freund!“ Ich hatte wirklich keine Zeit für Schuldgefühle, also schluckte ich sie hinunter und klopfte meinem Gegenüber brüderlich auf die Schulter. Eine weitere Kerbe in meinem Gewissen, um die ich mich vorerst nicht kümmern werde. Wer weiß, allenfalls werden mich meine Schandtaten irgendwann einholen, wenn ich alt und grau bin, sofern ich überhaupt solange überlebe.
„Kein Ding. Und jetzt komm, wir müssen weiter.“ Mouddour nickte wieder, dieses Mal eifrig und nachdem er den letzten Riemen verzurrt hatte, schritt er zu mir, hielt kurz inne und umarmte mich dann innig. „Möge Allah deine Taten belohnen!“ Eine Kerbe, wie jede andere zuvor.
„Was ist das?“, wisperte die kleine Aïchatou schüchtern und deutete auf die Katzenstreutüte, in der ich Ammoniumnitrat aufbewahrte; das dazugehörige Nitromethan hatte ich sicher im Kofferraum verstaut.
„Katzenstreu“, erwiderte ich beiläufig und wartete ungeduldig, bis Mouddour endlich den Autoschlüssel aus seiner zerrissenen Cargohose kramte.
„Oh, ich dachte das wäre Sprengstoff.“ Es schockierte mich nicht, dass das Mädchen mehr über Kriegsmaterial wusste, als ein meine Vierzehnjährige in der Heimat über Smartphones zu erzählen wusste. Zu oft hatte ich schon Kindersoldaten erlebt, die diese Welt, voller alltäglicher Brutalität und Gewalt, ihr Zuhause nannten.
„Im Haus meines Bruders hat es auch so gerochen“, erläuterte sie ihren Verdacht, nun etwas mutiger. „Es ist sicher Sprengstoff.“
„Sei nicht so neugierig, Aïchatou, Diego ist ein guter Mann“, verteidigte Mouddour meine Katzenstreutüte und ich konnte nicht umhin, ob der Gerissenheit der Kleinen zu lachen.
„Du hast Recht, es ist Sprengstoff“, gab ich schließlich zu, das Kind hatte mich durchschaut. Ob es wohl auch ahnte, dass ich nicht ein guter Mann war, so wie ihr Onkel sagte?
„Er ist jetzt weg, mein Bruder. Kastration.“ Schlagartig blieb mir mein Lachen im Hals stecken und auch Mouddour verstummte, schüttelte lediglich den Kopf. Ihr Bruder, so wie viele seiner Generation, musste nicht zum Soldaten, aber zur Unterhaltung der Söldner getaugt haben. Hilfe würde er keine finden, nicht einmal bei den ausländischen Hilfswerken, die meist nur weibliche Sexsklaven aufnahmen, sofern ihnen die riskante Flucht gelang. Der Motor des zerbeulten Wagens heulte auf und als wir durch den menschenleeren Autobahntunnel knatterten, konnte ich Mouddours Trauer förmlich mit den Händen umfassen.
Die Sonne blendete erbarmungslos durch den Tunneleingang, sodass es mir beinahe unmöglich war, zu erkennen, was davor lag. Eine Eibe zeichnete sich gegen das grelle Licht ab, dahinter bewegte sich etwas und noch ehe ich Mouddour alarmieren konnte, trat dieser harsch auf die Bremse.
„Diego, nimm Aïchatou!“, schrie er mir über das ohrenbetäubende Tosen hinweg zu, dessen Ursprung ich noch nicht ausmachen konnte. „Bitte, nimm sie und lauf weg!“, flehte er erneut, doch es war schon zu spät. Drei schwer bewaffnete Gestalten marschierten auf den Wagen zu, einer trug sogar einen Raketenwerfer auf der Schulter. Zweifelsohne gehörten sie irgendeiner Miliz an, denn sie trugen keine Uniform und sehr wahrscheinlich waren das Waffen aus dem libyschen Arsenal, welches in den Wirren des Bürgerkrieges geplündert worden war. Ich kletterte vom Beifahrersitz, streckte eine Hand zum Gruß, besser gesagt, zur Beschwichtigung aus und stellte mich den Fremden in gebrochenem Französisch vor. Auf keinen Fall durften sie erfahren, weshalb ich hier war; Reporter waren nicht gerne gesehen und Leute, die Reporter befreien sollten, ebenso wenig.
„Diego, lass mich mit ihnen reden“, drängte Mouddour und schob mich mit einem verängstigten Lächeln auf den Lippen beiseite. Gerade als er ein paar Schritte auf den spärlichen Trupp hinzumachte, sah ich ihn. Am Gürtel des Raketenträgers baumelte ein frisch abgetrennter Kopf eines Hundes.
„Essen?“, verlangte ich lautstark zu wissen und deutete auf den Kadaver. Die drei sahen mich erst irritiert, dann belustigt an und in mir kochte die Wut hoch. „Ist das euer Essen?“ Mein Brüllen donnerte durch den Autobahntunnel und mit dem Echo versiegte auch der hässliche Spaß aus den Gesichtern der drei Fremden.
„Wir fressen keine dreckigen Hunde“, zischte einer und ließ seine Kalaschnikow gefährlich hochschnellen. „Wir töten sie nur.“
„Ich verstehe“, murmelte ich gedämpft, versuchte mich im Zaum zu halten, allerdings konnte ich die Bilder nicht unterdrücken, die wie ein Blitzlichtgewitter vor mir auftauchten. Ich war noch so jung gewesen, viel zu jung. um im Kosovo zu kämpfen und meine Kameraden, einer nach dem anderen, fallen zu sehen, zu jung, um monatelang in Gefangenschaft gefoltert zu werden. Vor allem aber war ich zu jung gewesen, um meinen besten Freund an den Feind zu verlieren. Sein Name war Heinrich, ein Schäferhund, der vergeblich auf mich gewartet und dessen Treue ihn zu leichter Beute für gelangweilte Soldaten gemacht hatte.
„Das hättet ihr nicht tun sollen“, stellte ich kurzerhand fest, bevor ich flink meinen Revolver zog und das Feuer eröffnete. Das Leid derer, die mit Waffen hantieren, interessiert mich nicht, die Qualen derer, die unbescholten zwischen die Fronten gerieten, konnte ich mittlerweile tolerieren, aber die Exekution eines unschuldigen Hundes war schlicht und einfach nicht akzeptabel und jeder, der sich dessen schuldig machte, konnte von Glück reden, wenn ich ihm einen schnellen Tod gönnte. Mein Heinrich, eine Kerbe, wie keine andere.