Dort kommen sie!
Mit Spürhunden, Metallharken und einem ernsten, grauhaarigen Mann im Rücken. Die Hunde zerren an den kurzen Leinen. Immer die Nase am kürzlich gepflügten Kartoffelacker.
Ein milder Wind streicht zwischen den dichtstehenden Kieferstämmen hinein in den Wald. Ungewöhnlich warm für diese Jahreszeit, umspielt er meine Finger, die sich um einen knorrigen Ast klammern.
Die untergehende Sonne taucht die Szenerie in einen einladenden Orangeton und sie kommen stetig näher.
Ich habe sie eingeladen. Eingeladen zu diesem Spiel. Es wird das letzte dieser Art sein, denn es beginnt mich zu langweilen. Doch dieses eine Mal noch, werde ich ihnen alles abverlangen.
Gebell und ein chaotisches Stimmengewirr werden vom Wind herangetragen. Sie haben die Fährte aufgenommen.
Auf dem staubigen Feldweg, der Grenze zwischen Acker und Waldrand, haben sie das erste Indiz gefunden.
Es ist mir unheimlich schwer gefallen dieses Artefakt, diese Reliquie aller bisherigen Spiele, nun endgültig abzutreten.
Der Hundeführer studiert es genau, bevor er den grauhaarigen Mann zu sich ruft.
Ungeschlacht stakst dieser durch die groben Furchen des Ackers und nimmt das blütenweiße Taschentuch entgegen.
Blütenweiß, der Duft von großfiedrigen Dahlien. Makellos. Eine hauchfeine Stickerei in hellem Silber offenbart die Buchstaben „E“ und „D“. Schon jetzt kann ich die Verwirrung auf dem Gesicht der Männer erkennen.
Die Hunde ziehen wieder an und nun betreten sie ihn. Den alten Kiefernhain.
„Die Spur ist noch ganz frisch. Es ist kein Körnchen Schmutz an diesem Tuch. Er muss hier irgendwo sein.“ Vicomte Raoul zerknüllt das Taschentuch in seiner Faust. Leise und voll wehmütiger Hoffnung fügt er hinzu: „Und sie auch. Hoffentlich.“
Die Dämmerung setzt ein. Das Rascheln von trockenen Nadeln auf dem dürstenden Waldboden wird deutlicher. Die Polizisten folgen den Fährtenhunden von Baum zu Baum.
Es wird kühler. Die Nacht bricht herein. Eilig werden Öllampen entzündet. Ein Hund schlägt an.
„Vicomte Raoul!“, ruft ein Hundeführer aufgeregt und hält ihm eine kleine, braune Kugel entgegen.
„Eine Kastanie im Kiefernhain? Gute Arbeit, Philippe.“ Raoul hält das zweite Fundstück vor die matte Funzel. Er dreht und wendet sie in alle Richtungen. Eine schier unlösbare Aufgabe ist ihm zuteil geworden.
Seit Jahren stellt er mir nach, kann mich nicht fassen, ist darüber schon ergraut. Nun warte ich mit dem grandiosen Finale auf und Monsieur Raoul ist dem Wahnsinn sowie der Ohnmacht nahe.
Es ist noch nicht lange her, da lauschte ich den Räten der Stadt bei ihrer alljährlichen Haushaltsdebatte: Die brachliegenden Randflächen sollten besser genutzt werden. Die Stadt benötigt dringend Geld. Ein privater Financier wäre bereit einiges zu investieren, um Baumplantagen für den florierenden Möbelmarkt zu errichten. Die Wälder ringsum die Stadt sollen abgeholzt und wieder aufgeforstet werden. Kastanien würden dann anstelle des alten Kiefernhains wachsen. Ebenfalls anwesend: Vicomte Raoul.
Nein, das durfte nicht sein. Die Kiefer ist ein viel zu kostbares Gut, um einfach so der Raffgier zum Opfer zu fallen. Sie ist krumm und schief, sie ist störrisch und grob. Sie ist wie ich, sie ist trotz allem der Feingeist unter der grobschlächtigen Konkurrenz.
„Sucht weiter!“, schreit Raoul nun ungehalten. Angst treibt ihn an. Angst um ein geliebtes Wesen. Eine Dame von solch grazilem Anmut, dass man sie nur ansehen und bestaunen kann. Eine Frau, die er jedoch schändlicherweise als Prestigeobjekt interpretiert hat. Sie ist das „D“ auf meinem Taschentuch, welches nun nicht mehr mir gehört. Sie ist das fein eingewirkte Silber und der Duft der Dahlien. Und, sie ist in höchster Gefahr.
Die Lampen glimmen schwächer. Die Dunkelheit nimmt zu. Die Schritte der Suchenden entfernen sich. Ich muss hinterher.
Vorsichtig erhebe ich mich, umfasse den Stamm weiter oben und setzte einen Fuß nach dem anderen, auf den Ast der gegenüberliegenden Seite. Ich taste nach oben und ergreife das grobe Tau, welches die Brücke zur nächsten Kiefer bildet. Bald schon bin ich drüben.
Sie werden sie nicht finden können. Ich allein, weiß wo sie um ihr Leben bangt und ich allein werde sie befreien. Die Nacht ruft ihre Jäger auf den Plan. Auch ich kann nicht mehr lange warten, bevor ich zurückkehre. Andernfalls ist sie verloren. Blut lockt sie an, die Herrscher der Nacht.
Es reizt mich, mehr über die Gedankenwelt des verzweifelten Raouls zu erfahren. Ich steige einige Äste hinab.
Er hält das Taschentuch in der einen und die Kastanie in der anderen Hand. Tief in Gedanken versunken starrt er auf die Artefakte.
„D…“, flüstert er grübelnd. „Daaé? Ist es so simpel? Hat dieses Scheusal deinen Namen in sein verunstaltetes Leben sticken lassen?“
Ja, es ist so simpel. Mademoiselle Daaé ist mein! Sie wird sich nimmer mehr für das lüsterne Publikum opfern.
Die Hunde beginnen aufgebracht zu bellen, ich schrecke hoch, der Ast unter mir gibt nach und droht zu brechen. Hektisch umklammere ich den Stamm mit der einen Hand und greife mit der anderen nach oben. Anstelle eines Zweiges fühle ich einen stechenden Schmerz in meiner Hand, gefolgt von ohrenbetäubendem Gefauche! Ein Marder springt davon. Der Ast bricht nun endgültig. Schlapp hängt er gen Waldboden und ich klettere mit klopfendem Herz in die Krone des Baumes.
Die Öllaternen fliegen zu Raoul.
„Philippe, geben sie mir eine Lampe!“
Gespenstisch leuchten die Konturen Raouls auf, als er, mit dem Laternenhenkel zwischen den Zähnen, den Baum erklimmt.
Ich bin zu weit oben, um auf einen anderen Baum zu flüchten, trotzdem versuche ich mir einen benachbarten Ast zu angeln. Sollte es keinen anderen Ausweg geben, würde ich mich daran hinfort schwingen.
Unter mir kommt Raoul immer näher.
„Erik! Komm herunter, du Monster!“
So einfach werde ich mich nicht ergeben. Es ist noch nicht vorbei. Das letzte Spiel; das Spiel um den Hauptgewinn!
Mit meiner freien Hand greife ich tief in die Fracktasche und ziehe ein altes Jagdmesser heraus. Kurz tariere ich den Hirschhorngriff aus, dann lasse ich es fallen.
Geschickt duckt sich Raoul zur Seite. Die spiegelnde Klinge hat das Geschoss verraten.
Er klettert weiter, ist nun schon auf wenige Armlängen herangekommen. In seinen Augen glimmt lodernder Hass und so etwas wie Triumph.
Ich beginne hin und herzuschaukeln, versuche ihn so abzuschütteln, doch sein Tritt ist zu fest auf die Äste gestemmt.
Seine Hand streift meinen Stiefel und ich trete ihm auf die verruchten Finger, doch er lässt sich nicht abbringen.
Mir bleibt nur eins, ich angele nach dem Ast, umfasse ihn und stürze mich in die Tiefe!
„Erik …!“, höre ich Raouls langgedehnten Ruf, ehe mich der Waldboden dumpf empfängt.
Schaurig kaltes Mondlicht sickert durch das Kieferndach. Ich höre ein heiseres Pfeifen und ein gluckerndes Gurgeln. Seltsam verzerrte Tierlaute dringen in mein Gehör. Dann eine mir bekannte Stimme: „Nehmt ihm die Maske ab!“
Ich will protestieren, aber es bleibt bei einem Hustenanfall.
Als jemand an meiner Maske zerrt, schließe ich die tränenden Augen und vernehme die schockierten Ausrufe der Anwesenden.
„Wo ist Christine?“, fragt Raoul.
„In Gefahr …“, kann ich noch hauchen, bevor mir eine warme Flüssigkeit das Kinn hinunterläuft.
„Wo ist Christine Daaé? Verdammt, Erik, du möchtest sie doch auch retten!“ Raoul reißt mich am Kragen hoch. Er schüttelt mich, als wäre ich bloß eine Vogelscheuche.
Von weit her höre ich Streichinstrumente. Mit Bratschen und Celli untermalt, spielt eine Violine „La Resurrection de Lazare“. Ich habe dieses Stück schon einmal gespielt. Es war an einem Grab und nun weht es mir als Zeichen des Endes entgegen.
„Erik!“ Raoul schüttelt mich noch immer. „Erik, wo hast du Christine hingebracht?“
Ich erinnere mich nicht mehr … mir wird warm. Das Lied, welches die Streicher spielen wird lauter und ich lächle. Zum ersten Mal solange ich denken kann, lächle ich.
„Nein, Erik! Du gehst nicht von dieser Welt, ehe du mir nicht den Aufenthaltsort von Christine gesagt hast! Hörst du?“ Raoul tobt, doch seine Stimme verschwimmt und wird eins mit der Musik.
Musik … mein Lebensinhalt. Wer ist Raoul? Wer ist Christine Daeé? Wer war ich?