Diese Story ist auch als Hörgeschichte erschienen.
Marie unterdrückte ein Schluchzen, das ihr Bertram dennoch problemlos anhörte, und wich einem Haufen Pferdemist aus, der auf dem gekieselten Feldweg lag. Tröstend legte er einen Arm um die zierlichen Schultern seiner Frau, die im letzten Jahr derart abgemagert war, dass sie bestenfalls als Schatten ihrer selbst gelten konnte. „Wir haben alles richtig gemacht, oder?“, suchte sie Bestätigung; sie stellte diese Frage im Verlauf der letzten Monate häufig, er wusste längst nicht mehr, wie oft.
„Ja, das ist nicht unsere Schuld“, wiederholte Bertram seine zur Standard-Antwort gewordene Phrase mechanisch, ohne die grimmige Miene abzulegen.
„Achtung, Hundekacke“, unterbrach Lucy, ihre Teenager-Tochter, die Unterhaltung und deutete auf einen Hundehaufen, dem das Trio danach wortlos auswich. Einer Trauerprozession gleich gingen sie langsam und schweren Mutes auf den am Eingang des Geländes geparkten Wagen zu, auf dem Bauernhof waren keine Autos erlaubt. Der Kies knirschte unter Bertrams harten Sohlen, Lucy kickte hier und da desillusioniert ein Steinchen weg. Es gab nichts zu bereden, zu diskutieren oder zu streiten. Was zu sagen war, war längst gesagt worden. Bertram war sich sicher, dieser Moment fühlte sich für sie alle ebenso endgültig und traurig an wie für ihn.
„Und es ist wirklich aussichtslos?“, wollte Marie wissen, als sie den Sicherheitsgurt festzurrte; ihre Stimme klang dabei rau. Ohne den Wagen zu starten, wandte Bertram sich ihr zu, versuchte, die eigene Resignation zu verbergen. „Ich wüsste nichts, nein. Ich habe gestern noch einmal mit unserem Anwalt telefoniert, aber er meinte, wir hätten keinerlei Handhabe.“
Lucy saß reglos auf der Rückbank und hatte abwesend auf einen Fliegenschiss am Fenster gestarrt, nun riss sie sich aus ihrer Apathie. „Schreiben wir unsere Verluste ab und machen mit unserem Leben weiter.“
„Wie kannst du …?“, weinte Marie. „Ferdinand ist nicht ein … ein Ding. Er ist dein großer Bruder!“
„Bullshit!“, fuhr ihre Tochter dazwischen. „Er war mein Bruder. Dann hat er sich für diese Sekte, diesen verkackten Haufen Spinner, und gegen seine Familie entschieden, jetzt könnte er genauso gut ein Stück vergammeltes Fleisch sein. Du hast ja gehört, was er gesagt hat: ‚Wenn man Gott dient, gibt es im Herzen keinen Platz für irdische Sentimentalitäten.‘ Also, wieso sollten wir diesem selbstgefälligen Arschloch nachtrauern?“
„Weil er einer Gehirnwäsche unterzogen wurde“, tadelte ihr Vater sie, den Zündschlüssel weglegend, vorerst war er zu aufgebracht, um loszufahren. Er war unsicher, was ihn am meisten aufregte und befürchtete, ein Teil von ihm gäbe seiner Tochter Recht. „Er kann nichts dafür; der Ferdinand, den ich kenne, hätte sowas niemals getan! Bestimmt nicht im Glauben, er diene Gott.“
„Na klar, Gehirnwäsche.“ Lucy gab sich keine Mühe, ihren Hohn zu übertünchen, schnaubte verächtlich. „Ihm gefiel der Weg des geringsten Widerstandes, so simpel ist das. Im Übrigen hat ihn niemand gezwungen zuzuhören. Niemand, verdammt nochmal! Das hat er ganz und gar selbst gewählt, er hat beschlossen, uns für ihn tot zu erklären, er ist freiwillig weggegangen …“
Bertram wollte, nein konnte, sich das nicht anhören. „So einfach ist das nicht, solche Leute suchen nach schwachen Menschen und nützen sie aus.“
„Schwach. Schwach, dumm und faul, das trifft es schon eher.“ Lustlos lachend kurbelte Lucy das Fenster runter und spuckte ihren Kaugummi heraus in die mit zirpenden Grillen belebte Wiese. „Wenn sich jeder Vollidiot schwach nennen und damit aus dieser Scheiße herauslabern kann, bitte. Ich bleibe dabei, er ist schlichtweg zu einem Riesenarschloch geworden.“
Nun war es an Marie, sich zu empören. „So redest du nicht über deinen Bruder!“
„Ach, er dagegen darf so über uns sprechen? Wir seien ‚schmutzig‘, ‚Ungläubige‘, oder wie war das schon wieder? Hört doch auf, euch etwas vorzumachen, ich muss mich auch damit abfinden, neuerdings ein Einzelkind zu sein. Das Leben ist manchmal halt mies, Punktum und Schluss.“
„Ich sehe das anders.“ Bertram reagierte ungewohnt ruhig, ja gar diplomatisch, er wollte weiteren Zwist vermeiden, fürchtete sich davor, Lucy womöglich zuzustimmen. Insgeheim verfluchte er sich dafür, mit dem Rauchen aufgehört zu haben, gerade jetzt könnte er echt eine Zigarette gebrauchen. Marie drehte sich zu ihm und erkundigte sich: „Was ist eigentlich mit diesem Psychiater? Hast du dir das mal angeschaut?“
„Du meinst den Vogel, der sich ‚Deprogrammierer‘ nennt?“, brummte Bertram leicht verstimmt. „Halte ich für unseriös und vor allem habe ich keine Ahnung, wie wir Ferdinand überhaupt dazu brächten, mit dem Typen zusammenzusitzen. Willst du ihn etwa entführen? Da drin gibt es kein Telefon und wiederkommen dürfen wir auch nicht“, keifte er frustriert weiter, woraufhin seine Frau sich ereiferte: „Himmel, nein. Das wäre trotz allem nicht in Ordnung und, naja, illegal.“
„Genau“, entgegnete der verzweifelte Vater, ehe er seine Überlegung weiterspann. „Und aus dem Gefängnis können wir ihm schlecht helfen, wenn er eines Tages aussteigen will.“
„Hier können wir ihm genauso wenig helfen“, murmelte Marie niedergeschlagen.
Bertram fiel es schwer, das auszusprechen, was ihnen allen längst klar war. „Ich denke, zumindest für den Moment können wir gar nichts für ihn tun.“
Wie um seine Aussage zu untermauern klatschte etwas laut auf die Windschutzscheibe. „Ha, Vogelscheiße“, lachte Lucy bitter. „Sogar die Viecher finden diesen Drecksort zum Kacken.“
„Recht haben sie, Kleine“, seufzte Bertram und drehte den Zündschlüssel. Der Wagen sprang sofort an und rollte über den Kies auf die Straße zu. „Hoffen wir, Ferdinand sieht das früher oder später auch so. Es wäre schön, wenn wir wieder eine Familie sein können. Eines Tages.“