Diese Story ist auch als Hörgeschichte erschienen.
Remys Kaugummi schmeckte mit jedem Kauen weniger nach chemischen Erdbeeren, sodass der eklige, schweißig-salzige Nachgeschmack der letzten Stunden wie heiße Galle hochstieg. Gebückt saß er am Rande des Militär-Übungsgeländes und hoffte, kauernd zwischen dem hohen Maschendrahtzaun und den Gebüschen unentdeckt zu bleiben. Es war heute keinesfalls zum ersten Mal geschehen, eigentlich sollte er sich daran gewöhnt haben, doch irgendetwas war anders. Als wäre plötzlich ein Schalter in seinem Kopf umgelegt worden, war er entschlossen, diese Scheußlichkeiten nicht länger zu ertragen. Aus der Ferne dröhnte ein Motor auf und der Junge schreckte heftig zusammen. Er vermisste sein Kuschelkissen, sehr sogar, aber das lag dort, wo er nie wieder hinwollte; zwischen seinen verdreckten Laken und dem hellblauen Pyjama, den Henrietta und Olaf ihm zum Geburtstag geschenkt hatten.
„Remy“, rief ihm ein fremdes Mädchen freundlich entgegen, kaum stellte er seine Tasche vom Kofferraum auf den Kiesboden. „Du bist Remy, oder?“
Er gab sich große Mühe, seine Verwirrung zu vertuschen und nickte. „Ja. Und du bist …?“
„Kira, Kira Stepford aus Lancaster“, erklärte das zierliche Wesen selbstzufrieden. „Deine neue Schwester.“ Remy hielt inne, beäugte die Blonde argwöhnisch, ehe er schulterzuckend meinte: „Aha, von mir aus. Das hält sowieso nicht lange.“
Damals war er knapp sieben Jahre alt gewesen, kindliche Unschuld und Zuversicht hatte man allerdings vergebens in seinen Worten gesucht. Er kannte das Prozedere, es war stets gleich; eine Familie, die sich erhoffte, mit seiner Aufnahme einige Dollar extra vom Staat abzustauben, holte ihn ab und sobald sie bemerkten, dass er ihnen mehr Arbeit bescherte als abnahm, wurde er in ein Taxi zurück ins Waisenhaus gesteckt und das Spiel begann von vorn. Heute war er elf, hatte Elend, Schmerz und Ablehnung erlebt. Härte war das, was normalerweise durch seine Augen sprach, dahinter verborgen die ständige Angst davor, Geliebtes zu verlieren, schlimmer noch, zu finden. In diesem Moment, versteckt unweit seines aktuellen Hauses, auf dem Übungsgelände, schimmerte die Furcht ungehemmt durch den eisernen Schleier seiner emotionalen Kälte. Niemals zuvor war es soweit gekommen, bloß heute war es Remy unmöglich, seine Tränen zu unterdrücken.
„Ist das deine erste Familie?“, wollte Kira erfahren, während sie ihn durch das heruntergekommene Haus am Stadtrand führte.
„Nein“, war seine schlichte Antwort und statt nachzufragen, senkte Kira lediglich wissend das Haupt.
„Verstehe. Ich zähle auch nicht mehr mit.“ Die Kleine war, wie so viele vor ihr, tatsächlich seine Schwester, wenn nicht im Blut, dann im Geiste.
„Wie läuft es hier?“, erkundigte er sich schließlich nach den Regeln, deren Einhaltung über seine Zukunft bestimmen würde.
„Wie überall. Mach keinen Lärm, sprich und iss nicht ohne Erlaubnis und rühr auf keinen Fall den Alkohol an.“ Die routinierte Auskunft schockierte ihn nur kurz, abgebrühte Mädchen wie sie kannte er, es gab sie in jedem Haus.
Erneut durchdrang der Knall eines kränkelnden Motors die nächtliche Stille, er blieb ruhig. Remy war vorhin überstürzt ohne Plan weggerannt und alles, was er dabeihatte waren die geklauten Kleider an seinem Leib, eine Taschenlampe sowie das HDMI-Kabel, das der ursprüngliche Anlass für die gestrige Bestrafung gewesen war. Er hatte geschworen, es sei keine Absicht gewesen, er habe das Kabel zwar ausleihen, aber mitnichten stehlen wollen. Indessen war er sich unsicher, ob es sich wirklich auf diese Weise zugetragen hatte. Vielleicht hatte er es gewollt, hatte seine Pflegeeltern mutwillig provoziert, dessen beschuldigten ihn zumindest alle, die ihn diese Torturen erleiden ließen. Remy beschloss, auf die frühen Morgenstunden zu warten. Im Schutz der Dämmerung käme er mehr oder weniger gefahrlos über die Felder des Übungsgeländes, fände einen Offizier oder Fußsoldaten, der ihm widerwillig glauben müsste. Er war am Zug, denn so kam das Spiel ins Rollen und der Weg von der Polizeistation ins Waisenheim war vorprogrammiert.
„Kira“, murmelte Remy etwas verlegen. „Gibt es … Züchtigung?“ Die Angesprochene senkte ihre Lider, legte das Fernrohr, mit dem sie den Garten der weit entfernt wohnenden Nachbarn ausspioniert hatte, beiseite und wandte sich ihm zu, ohne ihn direkt anzusehen. Sie trug das Ding oft bei sich, behauptete ein Undercover-Agent zu sein, der zum Schutze der Pflegekinder gegen Henrietta und Olaf ermittelte. Jeder hatte seine Tricks, damit dieses Leben annehmbarer wurde.
„Ja. Meistens Prügel.“ Sie streckte ihren dürren Arm aus, um auf den Schürharken neben dem Kamin zu deuten. Remy war hin und her gerissen zwischen dem Wunsch, seiner neue Gefährtin zum Trost übers Haar zu streichen und dem Bedürfnis, noch eine Weile unnahbar zu wirken. Mit drei ausladenden Schritten näherte er sich dem Kamin und inspizierte den Folterstock dieses Hauses. Spitzes Metall, womöglich zuvor in glühenden Kohlen aufgeheizt.
„Blut?“, fragte er, als er die Verkrustung am Handgriff erspähte.
„Denk nicht daran“, riet ihm Kira traurig lächelnd. „Wenn du Glück hast, passiert dir das nicht, weil du ein Junge bist.“ Remy wurde klar, in was für einer Familie er gelandet war.
Kurz nachdem die frühen Vögel in ihren Gesang einstimmten, rappelte sich Remy mit einem schmerzverzerrten Ächzen auf. Da vernahm er ein vertrautes Glucksen aus der Jackentasche. Diese hatte er in seiner Eile vom Garderobenständer gerissen, sie war ihm viel zu weit und lang, weil sie Olaf gehörte. Er zog die Whiskyflasche heraus, hielt sie gegen den schwach leuchtenden Morgendunst und sah zu, wie die bernsteinfarbene Flüssigkeit vor und zurückschwappte. An der Stelle, wo am vergangenen Abend Henriettas Lippen genuckelt hatten, klebte der Lippenstift, welcher darauf auf seinem Bauch, seinen Oberschenkeln und dem Hals verschmiert worden war. Ihm war, als drängen Olafs Freudenjauchzer durch den Nebel der letzten Nacht zu ihm durch. Olaf sah gerne zu, reichte Henrietta alles, was sie brauchte, um die Kinder zu peinigen, hielt die schmalen Hand- und Fußgelenke fest. Der Schürharken wartete in den Kohlen auf seinen Einsatz. Zögerlich nahm Remy einen Schluck von der brennenden Flüssigkeit, dann gleich noch einen und noch einen. Das würde ihm helfen, die Schmerzen, die Grausamkeiten zu vergessen.
„He, junger Mann“, brüllte ihm ein Uniformierter entgegen. „Das Gelände gehört dem Militär, du darfst dich hier ni… Scheiße!“ Nach seinem Funkgerät greifend, trabte der Soldat eilig auf Remy zu. „Es spricht Sergeant Shepherd. Ich benötige dringend Verstärkung am Südende. Habe einen kleinen Jungen aufgegriffen. Bringen Sie den Doc, Decken und ein Rescue-Kit. Der Kleine sieht arg mitgenommen aus. Over.“ Das Spiel hatte von vorne begonnen, dachte sich Remy und ließ seinen schwachen Körper zu Boden stürzen.