Diese Story ist auch als Hörgeschichte erschienen.
Maria saß in der Mitte des imposanten Kirchenschiffs, das ausnahmsweise voll besetzt war – wie üblich an religiösen Feiertage, wenn sich plötzlich alle entsannen, dass sie als gute Christen ihrem Gott einen Besuch schuldig waren. Sie verzog ihre Mundwinkel leicht und unterdrückte ein Grinsen, sie selbst war nämlich an Weihnachten das letzte Mal hier gewesen. Wie für viele andere, war Religion für sie mehr Ritual denn Glaube, sodass sie eigentlich nur an den Feiertagen daran dachte, hierhin zu kommen.
Maria lauschte halbherzig den Worten des Priesters, die dahinplätscherten wie ein Rinnsal zum Frühlingsbeginn, nahm allerdings kaum wahr, wovon er sprach. Was für ein betäubender Tag, sinnierte sie ein Gähnen unterdrückend. Sie streckte sich möglichst unauffällig, so langsam machte sich der Schlafmangel bemerkbar, den eine Nacht voller Albträume nach sich zog. Ihre Aufmerksamkeit verschwand bald gänzlich und ihr fielen die apokalyptischen Reiter ein, Hölle, Chaos, Verderben. Nach und nach vermischten sich die Erinnerungen an ihre Träume mit der Stimme des Herrn auf der Kanzel. Er sah beinahe wie einer der Mönche aus, deren Haarpracht sich rings um eine kahle Platte drapierte, bloß war die Tonsur des Priesters kein Zeichen seiner Ergebenheit, sondern vielmehr ungünstiger Genetik. Sei es wie es sei, der Erlöser wurde ermordet, beerdigt und stand wieder auf. Ein Wiedergänger, ein Monster ohne Frankenstein, dafür mit einem monströs-mächtigen Vater. Welch Blasphemie ihr durch den Kopf ging, zu alledem in der Kirche! Maria bezweifelte zwar, damit eine Fahrkarte in die schwefelverseuchte Unterwelt einzulösen, so fromm war sie keinesfalls, dennoch ermahnte sie sich, diese Überlegung tunlichst zu vergessen.
Wenige Reihen weiter vorne hegte ein zweiter Kirchgänger unangemessene Gedanken von untoten Heiligen. „Gepriesen seist du, Zombie-Jesus!“, spottete Jo gedämpft und erntete dafür ein böses Funkeln von seiner Großmutter. „Benimm dich!“ Dem Fünfzehnjährigen war es ein Rätsel, weshalb die alte Lady auf diesen alljährlichen Ausflug bestand, zumal sie niemand, nicht einmal der Großvater, freiwillig begleitete – vermutlich hatte es mehr mit ihrer Heimat zu tun, als mit der Kirche an und für sich. Im Gegensatz zu seiner Oma war Jo mitten in der Stadt aufgewachsen und freute sich in der Regel insgeheim darauf, aufs Land zu fahren. Dieser Frühling war aber anders, denn seit letztem Herbst hatte er eine Freundin, mit der er liebend gerne seine Ferien verbracht hätte. Maggy war mit ihren Eltern nach Rio gefahren, eine Familientradition, welche die seine um Längen in den Schatten stellte – später wollte er sie mit seinen Kindern übernehmen, die wären sicher begeistert. Jo wusste nicht so recht, was er mit seinem Leben anstellen wollte, ob er studieren oder eine Ausbildung machen sollte und noch weniger wusste er, was danach passieren würde. Er hatte nur einen Plan: Er wollte Maggy heiraten. Selbstverständlich nahm das keiner ernst, weder seine noch ihre Familie glaubte daran, dass sie länger als einige Monate zusammenblieben, höchstwahrscheinlich war sogar Maggy skeptisch – kümmerte das kaum, er könnte sie schon für sich gewinnen.
Ein leises Schnarchen ließ Jo hochfahren und zur Seite schielen. Opa David war eingeschlafen und Oma Barbara schaute gebannt zur Kanzel hoch. Seine Chance witternd zog Jo vorsichtig das Handheld aus der Hosentasche und betete zu dem Typen, dessen Gefolgsmann er nicht zuhören mochte, in der Hoffnung ungestraft davonzukommen.
Die dicken Tropfen des Frühlingsregens hämmerten gegen die Bleiglasfenster und in den kurzen Augenblicken, in denen die Sonnenstrahlen durch die Wolkendecke zu dringen vermochten, wurden sie durch die Farbschichten sichtbar. Die großen Kreise verharrten eine Weile, schwollen weiter an, rannen schließlich der Scheibe entlang hinunter. Bestimmt hasteten draußen Passanten durch den kalten Schauer, spannten auf dem Weg zur Arbeit, zum Supermarkt, nach Hause ihre Schirme auf oder fanden sich murrend damit ab, nass zu werden. Nicht mehr lange und Maria könnte sich ebenfalls in das launische Wetter stürzen, denn der Priester käme bald bei der Auferstehung Jesu an. Die Informatikerin in ihren Vierzigern kannte die Geschichte zu Genüge, stammte sie doch aus einer religiösen Familie. Fahrig versuchte sie, ihre sorgfältig zurechtgekämmte sowie danach von Sturm sabotierte Frisur mit den Fingern zu retten. Ihre Anstrengungen blieben unfruchtbar, aber zumindest konnte sie sich ein wenig beschäftigen. Auch wenn Maria den Ausführungen des Priesters folgen wollte, außer den Eckdaten und Kernaussagen drang kaum etwas an ihren von der durchwachten Nacht vernebelten Geist. Auf einmal vibrierte ihr Handy und sie wurde kribbelig, ungeduldig, wagte es trotzdem nicht, es aus der Handtasche zu ziehen. Solch weltliche Bedürfnisse wie das Lesen einer Nachricht waren ihn der Kirche unschicklich, selbst eine Feiertagskatholikin wie sie wusste das. Der Junge, der zwei Sitzreihen vor ihr auf einer PS-Vita zockte, schien sich darum keinen Deut zu scheren – wahrscheinlich war es ihm einfach egal.
Ein rascher Blick aus dem Fenster bestätigte Jos Verdacht – die Witterung hier war nicht annähernd so sonnig, wie es in Rio sein musste. Manchmal kam ihm der Himmel auf dem Land launischer vor als in der Stadt. Nieselregen, Sturm und klarstes Picknickwetter wechselten sich scheinbar im Sekundentakt ab, der nächste Unterschlupf lag häufig weit entfernt. Das hatte er gestern Nachmittag deutlich zu spüren bekommen, nachdem er mit Opa David mitten auf einem Feld in einen Schauer geraten war. Nun gut, immerhin davor bliebe er in der Kirche verschont, wenn das auch ein geringer Trost dafür war, sich zu Tode zu langweilen und befürchten zu müssen, von Oma Barbara eine gegens Schienbein gepfeffert zu bekommen. Zum Glück war sie völlig hin und weg von der Messe, sodass er in Ruhe wiederkehrende, digitale Tode sterben konnte. Ein Schmunzeln schlich sich auf seine jugendlichen Züge, weil er nicht umhin kam, sich Jesus als Videospiel-Charakter vorzustellen. Hinter ihm räusperte sich jemand und weil Jo das Level ohnehin auf die Nerven ging, pausierte er das Spiel, um sich etwas in dem zum Bersten gefüllten Gotteshaus umzusehen. Ob die Bankreihen wohl jeden Sonntag so gut besetzt waren, fragte er sich, unschlüssig, welche Antwort er sich wünschte. Seine Eltern gaben ihr Bestes, ihm das gute Wort beizubringen – mit mehr oder minder großem Erfolg, zumindest nicht komplett vergeblich. Ein Befürworter der kirchlichen Institution war er allerdings eher weniger.
Sie musste etwas verpasst haben, denn der Priester sprach mittlerweile von Liebe und Familie, statt von Wasserläufern – war ja klar, er zog seinen Vortrag in die Länge. Schuldbewusst setzte Maria sich bolzengerade hin, strich hektisch ihren Rock glatt und dachte an ihre eigene Familie. Nun, besser gesagt daran, dass sie keine Familie im herkömmlichen Sinne hatte – keine Ehe, momentan keinen Partner und Kinder sowieso nicht. Ungeachtet wie sehr sich ihre Eltern bemühten, sie davon zu überzeugen, eigenen Nachwuchs in die Welt zu stellen, Maria hatte sich weder von den mütterlichen Überredungskünsten, noch vom enttäuschten väterlichen Kopfschütteln überzeugen lassen. Ab und an bereute sie ihre Entscheidung, zu gerne wäre sie ihm hohen Alter umgeben von Enkelkindern, aber meistens war sie rundum zufrieden. Außer an solchen Feiertagen, denn Dinge wie mit Schokoeiern gefüllte Nester zu verstecken fand sie besonders unterhaltsam. Vielleicht sollte sie sich mit dem unflätigen Jungen vor ihr anfreunden, der verstand augenscheinlich etwas von Unterhaltung, zumal er sich derzeit mit dem Spiel „Hotline Miami“ beschäftigte, anstelle der Messe zuzuhören. „Was für ein frecher Bengel!“, mokierte Maria sich gedanklich über den Jungen, während sie den Priester ebenso ignorierte.
Eine seltsame Frau, die mindestens genauso übermüdet aussah, wie er sich fühlte, hatte ihn vorhin eingehend gemustert, was Jo dazu bewegte, sich wieder nach vorne, auf den winzigen Bildschirm zu richten. Bald käme der Priester zur Auferstehung des Messias, was ihn erneut an Zombies, dann an Horrorfilmabende und schlussendlich an Maggy denken ließ. Ihm war es absolut unverständlich, wie er die letzten vierzehneinhalb Jahre seines Lebens ohne dieses wunderschöne Mädchen hatte überleben können. Sie war es, die ihn zum Lachen brachte, deren Hand er halten wollte, mit der er endlose Diskussionen über Bedeutendes sowie Belangloses führte, die er jetzt so sehr vermisste, dass es schmerzte. Maggy war schlicht und ergreifend perfekt, nie und nimmer wollte er ohne sie sein – von all seinen Freunden beneidet zu werden, weil er mit ihr ging, war ein Pluspunkt, aber so wichtig waren ihm die neidzerfressenen Gesichter nicht.
„Sag mal, geht’s noch?!“, flüsterte seine Großmutter empört. „Leg das weg!“
„Entschuldige, Oma“, begann der ertappte Jo, auf eine gezischte Predigt, diesmal von der Oma statt vom Priester, gefasst. Jedoch sollte er von einem ohrenbetäubenden Geräusch gerettet werden, ehe die Mutter seines Vaters Luft holen konnte.
Maria kämpfte mit aller Kraft gegen den Niesreiz an, nur waren alle Mühen nutzlos – ihre Absicht, dezent in ein Taschentuch zu niesen, scheiterte kläglich und sie erschreckte die gesamte Kirchgemeinde mit einem fürchterlich lauten „Hatschi“. Beschämt starrte sie für einen Moment auf den Boden, verfluchte stumm alle Pollen der Erde und wünschte sich, niemand könnte erspähen, wie ihre Wangen rot anliefen. Der Heuschnupfen plagte sie schon, seit sie ein Kind gewesen war. Damals durfte sie noch Osternester suchen, ohne schief angesehen zu werden, was das pflichtbewusste Stillsitzen in der Kirche während der Allergiesaison wenigstens ein bisschen erträglicher gemacht hatte.
Na also, endlich erzählte der Priester von Jesus‘ Auferstehung – Maria glaubte die baldige Erlösung von der Langeweile zum Greifen nahe. Ihre innerlichen Jubelschreie wurden bald von hämmerndem Klopfen und Kratzen unterbrochen. Wer auch immer diesen Lärm verursachte, brachte damit gar den Priester aus dem Konzept – der biblische Zombie musste vorerst auf seine Auferstehung warten. Erstauntes, beunruhigtes Murmeln raunte durch die vollbesetzten Bänke und Maria überkam ein unerklärliches, ungutes Gefühl.
„Was ist denn los?“ Opa David strich sich verwirrt blinzelnd durch sein dichtes, ergrautes Haar. Jo kniff seinerseits die Augen zusammen, um zu erkennen, was bei der Eingangstür vor sich ging. Sie saßen in der zweiten Reihe, etwas links von der Kanzel, die Sicht zum massiven Tor wurde von adrett gekleideten Menschen versperrt, die ihre Hälse nach hinten reckten. Das Hämmern war selbst über die durcheinanderredenden Leute deutlich zu vernehmen. Wer um alles in der Welt war so erpicht darauf, in die Kirche zu kommen, wunderte sich Jo.
„Keine Ahnung“, entgegnete die Großmutter im monotonen Tonfall – so klang sie, wenn sie neugierig war und irgendwer sie dabei störte, den Dingen auf den Grund zu gehen. „Da ist einer an der Tür …“
„Bitte setzen Sie sich“, forderte der Priester seine Schäfchen über die Lautsprecher auf, bevor er einen Messdiener zu sich winkte und gerade laut genug sagte, dass Jo es hörte: „Jakob, gehst du bitte nachsehen, wie wir dem Fremden helfen können?“ Der Angesprochene, ein Junge von knapp zwölf Jahren, nickte, überreichte das Weihrauchschiffchen einem anderen Ministranten und eilte anschließend den Mittelgang hinunter. Jo fand das Pochen unheimlich, zumal ihm nicht einleuchten wollte, wieso jemand derart vehement gegen eine unverschlossene Tür schlug, anstatt einfach einzutreten – womöglich fand es irgendein Witzbold lustig, der Sonntagsgemeinde einen Streich zu spielen.