Diese Story ist auch als Hörgeschichte erschienen.
Der Bentley kam kurz ins Schleudern und Ida verschüttete ihren Kaffee auf dem anthrazitfarbenen Leder, welches sie anschließend genervt mit einem Taschentuch trocken tupfte. Sie schluckte den kalten Kloß in ihrer Kehle hinunter, als sie das Ortschild passierten, rückte ihre blonde Mähne fahrig zurecht und bemühte sich um eine aufrechte, stolze Sitzposition. Die Dorfstraße hatte im letzten Jahrzehnt unter der rauen Witterung gelitten, denn obwohl man offensichtlich versucht hatte sie mit dürftigen Mitteln zu flicken, wies sie einige tiefe Schlaglöcher und Dellen auf. Ida war achtundzwanzig gewesen, als sie das Dorf zum letzten Mal gesehen hatte und so wie sie den Ort ihrer Kindheit und Jugend kannte, würde sich nicht viel verändert haben. Das Dorf lag weit abgeschlagen von der hektischen Welt, direkt am Rand eines großen Waldgebietes und die Zeit schien hier immer stillzustehen, die Zeiger der Uhren liefen stets einige Sekunden, Stunden, Jahre hinter der modernen Gegenwart. Die schwere Karosserie des edlen Wagens wurde erneut erschüttert, als sie den geräumten Teil der Straße verließen und der Fahrer fluchte leise vor sich hin und umklammerte das Lenkrad. Der Schnee war festgefahren und rutschig, keine guten Voraussetzungen für Ida, die ihre neuen High Heels zum Klassentreffen hätte tragen wollen.
Es hatte sich seltsam angefühlt in einem Hotelzimmer zu übernachten, so seltsam, dass Ida kaum hatte schlafen können und die Nacht damit verbracht hatte, in der Lobby mit einem anzüglichen Geschäftsmann zu trinken. Als der Morgen kam stand sie im obersten Stock auf dem Balkon ihres Zimmers und blickte auf die verschlafenen Menschen herab, die eilig über den ehemaligen Exerzierhof rannten, um den ersten Zug zu erwischen. Wieder wurde sie von Zweifeln geplagt und fragte sich, ob diese Scharade es wirklich wert gewesen war, einen Großteil ihrer Ersparnisse dafür zu opfern und just in dem Moment, als sie die Sache gerade hatte abblasen wollen, sah sie Melanie, die mit den anderen zum Bahnhof marschierte.
Seit dem Tag, an dem die Einladung ins Haus geflattert war, hatte Ida beinahe jede freie Minute dafür geopfert den perfekten Plan auszuhecken. Als Tochter der einzigen alleinerziehenden Mutter im Dorf war sie während ihrer Schuljahre mit unzähligen Vorurteilen konfrontiert worden und irgendwann hatte sie ihre Stellung als Sonderling einfach akzeptiert. Aber heute, über zwanzig Jahre später, sollte sie endlich die Gelegenheit erhalten, sich des peinigenden Irrwitzes ihrer Jugend zu entledigen und zu guter Letzt doch noch die Anerkennung genießen können, die sie verdient hatte – Nun ja, deren Verdienst sie vorgaukeln würde, aber wer hatte schon Interesse an solchen Kleinigkeiten?
Einige Wolkenfetzen kündigten den nahenden Frühling mit einem kurzen, eisig kalten Schauer an, der die Dorfstraße kurz darauf in eine spiegelglatte Eisfläche verwandelte und Ida stand viel zu früh, und ohne ihre Stöckelschuhe, am vereinbarten Treffpunkt vor der lokalen Turnhalle, deren Umbau die Verschiebung der Hauptstraße notwendig gemacht hatte. Unter ihrem dicken Mantel trug sie ein tiefgrünes Kleid mit dem passenden Schal und die Clutch, die an ihrem Handgelenk baumelte, ließ den geliehenen Diamantring richtig schön zur Geltung kommen. Mario kam erst einige Minuten nach ihr an und obwohl sie ihn seit einer Ewigkeit nicht mehr gesehen hatte, erkannte sie sein schiefes Grinsen auf Anhieb; er hatte sich kaum verändert, ja selbst die Zahnlücke war noch da. Die beiden begrüßten sich übertrieben freundlich und beschlossen, schon mal vorzugehen und in der Wärme auf die anderen zu warten. Nach und nach trudelten Idas alte Schulkollegen ein und alle schienen sie der Ansicht zu sein, dass man sich hier mit alten Freunden traf und dass es vollkommen akzeptabel wäre, so zu tun als wäre die gemeinsame Vergangenheit für alle eine wunderschöne Erinnerung, die nur positive Emotionen weckte. Die ersten Gespräche verliefen oberflächlich und Ida hatte Schwierigkeiten, so richtig in Fahrt zu kommen und ihre Schüchternheit über Board zu werden, doch als Melanie endlich aufgetaucht war, fühlte sie wie die alte Wut, die Verzweiflung wieder in ihr aufbrodelte, so als hätte dieses hinterhältige Biest erst gerade gestern diese bösartigen Lügen über sie verbreitet. Ida rückte ihre teure Kleidung zurecht, kippte schnell den restlichen Champagner in ihrem Glas hinunter um sich Mut zu machen und schritt dann mit einem gewinnenden Lächeln auf ihre ehemalige Feindin zu. „Oh Hallo, wie lang ist’s her?“, sagte sie, legte ihren Arm auf die Schulter ihres Gegenübers und machte sich innerlich auf alle möglichen Gesprächsabläufe gefasst, welche sie sich während den letzten Monaten durchdacht und vorbereitet hatte.
Idas Gedanken begannen zu fliegen und versetzten ihr einen Adrenalinschub nach dem anderen. Die dunklen Schatten unter Melanies Augen verrieten ihr, dass sie wohl nicht genügend Schlaf bekam. Vielleicht hatte sie auf ihre alten Tage noch einmal Kinder geworfen und würde sich einreden, damit etwas Sinnvolles zu tun, dachte sie sich. Ida hoffte es, denn für dieses Szenario hätte Ida bereits eine hieb- und stichfeste Strategie, um die gute Hausfrau und Mutter vernichtend zu schlagen. Oder vielleicht ging sie einer trost- und aussichtslosen Arbeit nach und die langen Schichten ließen ihre Haut frühzeitig verschrumpeln. Gespannt und voller Vorfreude tippelte Ida von einem Bein aufs andere und sie konnte es kaum erwarten, dass Melanie mit zwangsoptimistischer Gelassenheit von ihrem verkorksten Leben erzählte. Endlich, ja endlich würde sie den Tyrannen ihrer Jugend besiegen und der Moment der Genugtuung würde alle Opfer, die sie gemacht hatte und bereit war zu machen, rechtfertigen.
„Ida, es freut mich dich so zu sehen!“, stotterte Melanie überrascht aber sichtbar erleichtert, bevor sie ihr um den Hals fiel und sie so fest drückte, dass Ida beinahe die Luft weggeblieben war. „Ich hatte solche Angst davor dich heute zu treffen, aber sieh dich an…“, sagte sie und rückte etwas nach hinten um Ida von oben bis unten zu mustern, bevor sie fortfuhr: „Dir scheint es richtig gut zu gehen, ich bin so froh!“ Während den nächsten Minuten konnte Melanie kaum aufhören sich für all die Schrecklichkeiten zu entschuldigen und während sie sich offenbar aufrichtig für Idas erfolgreichen Lebenswandel begeistern konnte, verstummte diese immer mehr. Ihr Plan ging den Bach runter. Ida hatte sich so sehr gewünscht, als Gewinnerin nach Hause zu fahren, diejenige zu sein, die es allen gezeigt hatte, die jedermanns Erwartungen übertroffen hatte und endlich einen Schlussstrich unter die nagenden Selbstzweifel ihrer Jugend ziehen zu können. Doch nun stand sie hier und schon wieder wurde ihr der Auftritt von dieser biestigen Frau versaut und sie sah sich vor die Wahl gestellt, sich versöhnlich zu zeigen und damit wahre Grösse zu beweisen, oder…
Wie von der Hornisse gestochen und ohne sich noch einmal umzusehen, wandte sich Ida von ihrer ehemaligen Kontrahentin ab und rannte aus der Turnhallte, wo sie das kompakte Funkgerät aus ihrer hochwertigen Handtasche zog. Der Knall hatte die Jahrgangsklasse augenblicklich in wilde Panik versetzt und Ida sah durch die vergitterten Turnhallenfenster, wie sie alle verzweifelt versuchten durch die verriegelten Türen nach draußen zu entkommen. Müde, aber zufrieden setzte sie sich auf die Stufen, welche direkt auf die Dorfstraße führten und wartete darauf, von der Polizei abgeholt zu werden. Die Rache war spät und nicht sehr elegant, aber was konnte man von der verbitterten Ida ohne High Heels schon erwarten?