„Das ist eine Lektion fürs Leben“, lachte Ferdinand und stellte sein halb leergetrunkenes Glas stilles Valser Mineralwasser mit einem viel zu lauten Knall, der seiner Arthritis geschuldet war, auf den Tisch.
Else sah sich im Gemeinschaftsraum um und runzelte die Stirn. „Ferdi, was willst du in deinem Alter noch Lebenslektionen lernen? Wir sterben sowieso bald.“
Ferdinand gab ein vergnügtes Geräusch von sich. „Das hoffen meine Enkel auch immer, aber die haben sich geschnitten, diese Rotzbengel von Erbschleichern! Ich bin fünfundachtzig und fitter, als ich es je war.“
„Moment“, wandte Hanspeter ein und legte eben die Dessertgabel weg. „Haben wir uns nicht gerade über den Kerl lustig gemacht, dem sein Telefon hinunterfiel? Wieso kamen wir dann auf Lebenslektionen für Leute in unserem Alter? Der war ja viel jünger als wir, da kannst du doch nicht einfach alles auf uns anwenden!“
„Und siehe da, der Klugscheißer ist zurück – als ob ich zugehört hätte, über was wir sprachen, ich will mich doch nur beschweren.“ Empört lehnte sich Ferdinand nach hinten und fügte hinzu: „Kein Wunder, bei all den Medikamenten.“
„Oder du wirst langsam dement“, stichelte Else wie aus der Kanone geschossen, bevor sie mit einer verzückten Miene das letzte Kuchenstück aufgabelte.
Selbstverständlich brauchte Ferdinand keine Sekunde, um zurückzugeben: „Mag sein. Wenn du diesen Süßkram weiterhin wie mit einem Bagger in dich reinschaufelst, wirst du zum Seehund – dann reicht keine Personenwaage mehr.“
Else gab ein trockenes Glucksen von sich, ehe sie sich nach weiterem Kuchen umsah. „Ich will doch nicht sterben, wenn ich alt und verblödet bin, da lasse ich es vorher auf einen Herzinfarkt ankommen.“
„Ich weiß nicht, ob das medizinisch korrekt ist“, warf Hanspeter ein. „Außerdem möchte ich mal wieder sagen, wie unmöglich ihr beide seid.“
Mit einem Male verfinsterten sich Ferdinands Züge. „Ach, wir sind unmöglich? Das sagst ausgerechnet du, du, du …“
Else sprang ihrer stotternden Nemesis sogleich zu Hilfe. „… du Geriatrosaurus?“
„Wer, ich?“ Ferdinand war herumgefahren und blitze die wieder Kuchen mampfende (wo sie das zweite Stück gefunden hatte, war ihm ein Rätsel) Else an. Diese schluckte gemächlich, als gäbe es keine zwei erwartungsvolle Augenpaare, die auf ihr ruhten. Endlich, es schien den beiden Herren eine Ewigkeit zu dauern, erklärte sie: „Nein, ich wollte dir einen Vorschlag für eine Beleidigung machen, die du verwenden könntest. Aber vielleicht habe ich mich getäuscht und du bist hier das Fossil, da du das nicht verstehst.“
„Endlich zanken sie wieder wie gewohnt“, seufzte Hanspeter erleichtert, streckte seine Beine und entfachte seine Pfeife. Gemächlich paffte er den Rauch über die Terrasse des Cafés, das zur Alterswohnsiedlung gehörte. Verwirrt wandte sich Ferdinand an Else: „Ich dachte, er regt sich auf, wenn wir zanken?“
„Nein, er findet es insgeheim amüsant“, murmelte Else, nun fasziniert. „Hätte wir die Technologie dazu, könnten wir seine Gedanken analysieren und herausfinden, was er wirklich von uns hält. „Irgendwo gibt es sicher auch dafür einen Computer, die können ja heute alles.“
Hanspeter grinste heimlich, tat zugleich so, als lauschte er nicht dem Gespräch, das sich kaum zwei Meter neben ihm abspielte; das Duo war einfach zu unterhaltsam.
„Pumpernickel!“, rief Ferdinand aus. „Die sagen im Fernsehen schon seit Jahren, wir werden von Computern ersetzt, aber all meine Enkel machen den ganzen Tag nix anderes, als auf den Dingern herumzutippen und werden dafür bezahlt. In meiner Zeit gab es noch keine farbigen Bildchen, auf die man bei der Arbeit klicken konnte, sondern echtes Papier.“
„Papier gibt es immer noch“, wandte sie ein und krauste sogleich die Brauen. „Wieso gibt es eigentlich noch Papier? Ich dachte, man kann alles auf diese neuen Handys speichern?“
„Dann kannst auch alle, die keines haben oder den Krimskrams nicht verstehen, entlassen. Nein, die Dame, ich mag meine Korrespondenz auf toten Bäumen, ganz egal, was diese neumodischen Hippies sagen!“
„Heißen die jetzt nicht Hipster?“ Elke überlegte, ehe sie hinzufügte: „Ich glaube, Mara ist eine von denen, die hat mich letzthin nach alten Möbelstücken gefragt; weil das ‚voll retro‘ sei.“
„Wer ist Mara?“
„Na, die Mara? Du weiß schon, Mara eben.“
Ferdinand brummte. „Pah! Als ob ich mir die Namen all deiner Nichten, Enkel, Neffen und dem ganzen Gruselkabinett merken könnte.“
„Die Mara ist schon ein nettes Mädchen“, sinnierte sie, ohne auf sein Gezeter einzugehen. „Auch wenn sie zu diesen Hipp-Dingsern gehört, immerhin hat sie so Freude an meinen alten Sachen.“
„Sag bloß, du hast in deiner Jugend keinen Blödsinn gemacht“, spottete Ferdinand, ohne sich nach der mysteriösen Mara zu erkundigen. „Wer weiß, wahrscheinlich hast du gar ein Manifest von den Roten gelesen!“
Else errötete. „Ich habe geklaut. Kleider, Schmuck, alles Mögliche. Dafür musste ich dann ins Internat.“
„Heute schicken sie Kinder, die Blödsinn machen, nur ins Internet“, brummte er und nahm einen großen, schlürfenden Schluck aus seiner Kaffeetasse. „Da hast du im Internat wenigstens gelernt, dass man nicht klauen soll. Nonnen mit Linealen sind zu vielen gut.“
„Ich habe ihnen die Lineale geklaut.“ Else kicherte und beide Männer hoben zeitgleich den Kopf, um herauszufinden, ob sie scherzte, wie sie es oft zu tun pflegte oder die Wahrheit erzählte. Auch die rüstige Rentnerin bemerkte die Unsicherheit ihrer Gesprächspartner und fügte hinzu: „Ich habe alle paar Monate etwas gestohlen, bevor ich hierherkam; erzählt das aber jetzt nicht meiner Familie, ja?“
Mit einem stummen Nicken und unverhohlenem Amüsement klopfte Hanspeter seine Pfeife aus, während Ferdinands Mundwinkel in ein frenetisches Zucken verfielen. „Oh, Elselein, du hast mir gerade das perfekte Druckmittel gegeben. Endlich, endlich habe ich den Drachen besiegt!“
„Du wirst meiner Familie nichts erzählen, damit kannst du mir keine Angst einjagen. Nein, Ferdi, du kämpfst fair.“
„Donnerwetter, wieso weißt du das?“
„Wir kennen uns lange genug, um …“ Ferdinand unterbrach sich. „Dafür habe ich einen anderen Weg, dich zu ärgern: Ich wette, du schaffst es wohl kaum mehr, etwas zu klauen.“
„Topp; die Wette gilt.“ Damit erhob sich Else, watschelte gemächlich durch die Terrassentür ins Innere des Cafés und trat an die Theke. Hanspeter, der mittlerweile seine Pfeife verstaut hatte, fragte: „Warum nur musst du sie dazu anstiften, noch mehr Kuchen zu klauen?“
„Ich habe Hunger“, gab Ferdinand schulterzuckend zurück. „Der Zweck heiligt die Mittel.“