„Schau mal, es schneit“, rief Cynthia begeistert und deutete auf den mit einer weißen Puderzuckerschicht bedeckten Weg vor ihnen. Ihr Mann warf ihr einen flüchtigen Blick zu und meinte dann: „Ja, heutzutage gibt es nur eine Möglichkeit, weiße Weihnacht feiern zu können.“
„Und all dem Getue um nichts für ein paar Stunden zu entkommen“, fügte sie hinzu. „Keine Streitereien beim Familienessen, kein riesiger Braten, kein Problem damit, sich zu überessen …“
„Bis wir morgen deine Familie besuchen, dann geht’s richtig los.“ Hamid lachte und reichte ihr den Controller für die Spielkonsole. Er hatte extra die Rollladen geschlossen und ein paar Kerzen angezündet, damit die Stimmung wenigstens ein bisschen winterlich wurde, denn draußen war es gut und gern zehn Grad warm und ein herbstlich anmutender Sturm tobte. „Was gibt es eigentlich hier oben in den Bergen so alles?“, fragte Cynthia, die das Spiel noch nicht durchgezockt hatte.
„Wilde Tiere und ein paar Verbrecher, also sei besser vorsichtig“, warnte er und erhob sich, um etwas Eierpunsch zu holen. „Ich glaube, ein Gewichtsproblem kriegen wir auch so, so viele Kekse wie wir heute schon gegessen haben.“
„Das waren doch gar nicht so viele, oder?“, murmelte Cynthia abwesend, während sie weiter den Weg durch den verschneiten Wald entlangging. Hamid lachte und wandte sich zu seiner Frau um. „Machst du Witze? Das war beinahe eine ganze Tüte!“
„Echt?“, entgegnete sie abwesend, ohne wirklich zu verstehen, was er gesagt hatte. „Bringst du bitte noch welche, wenn du schon in der Küche bist?“
Er kramte die Dose aus dem Schrank und bereitete sich darauf vor, einen sarkastischen Spruch vom Stapel zu lassen, als ein panischer Schrei aus dem Wohnzimmer erklang. Hamid stellte alles so schnell er konnte hin und hastete durch den offenen Bogen zurück. Er konnte sehen, wie Cynthia fluchend vor dem Fernseher saß, den Controller umklammert, als wollte sie ihn mit ihren zierlichen Händen zu einer nicht wiedererkennbaren Ansammlung aus Trümmern zermalmen. „Shit“, schrie sie, „du verfluchter, wertloser Drecksack von einem digitalen Raubtier, ich mach dich alle!“
Hamids wandte sich dem großen Bildschirm zu, wo der Abenteurer, der eben erst einen Flugzeugabsturz überlebt hatte, blutend im Schnee lag. Neben ihm stand ein etwas gar großer, zähnefletschender Wolf. Mit einem glucksenden Geräusch machte er kehrt und fragte sich, ob er sich auch jedes Mal so aufregte, wenn er in der Welt der Abenteuerspiele das Zeitliche segnete. Mechanisch griff er nach der Keksdose und seinem Eierpunsch und kam zum Schluss, dass er jeweils genauso fluchte wie seine Frau. Vielleicht passten sie deshalb so gut zusammen, immerhin hatten sie sich auch auf einer LAN-Party kennen gelernt, damals, in einer Zeit, in der es noch keine Xbox gab und die PlayStation noch keine Netzwerkkarte gehabt hatte. In der Epoche, in der die überdimensionierten Gaming-PCs mit Wasserkühlung und leuchtenden Gehäusen aufgekommen waren. Er musste grinsen, denn er erinnerte sich noch genau an jedes Detail von Cynthias übertakteten Pentium IV, wegen dem er zugegebenermaßen ein wenig neidisch auf sie gewesen war. Die Erinnerung an seine Frau, die in „Counter Strike“ Gegner über den Haufen gemetzelt hatte, war noch immer eine seiner liebsten.
Beinahe wäre er über eine von ihren unzähligen Lichterketten (die orange leuchtende mit LED-Lämpchen) gestolpert, als er sich wieder auf die Couch setzte und beobachten konnte, wie Cynthia sich am Wildleben in der verlassenen Region blutig rächte.
„Schatz, dein Handy“, unterbrach er ihr Massaker, als das Smartphone die Tetris-Melodie zum Besten gab, die ihn längst in den Wahnsinn trieb. Wie konnte man nur einen derart langen Klingelton für eine einfache SMS-Nachricht auswählen ohne jedes Mal auszurasten, wenn eine Nachricht ankam?
Cynthia reichte ihm den Controller, natürlich in dem Moment, in dem ein wütender Puma auf den Abenteurer zugerannt kam und griff nach ihrem Handy. Nach einem Blick aufs Display erklärte sie: „Es ist Mom.“
„Ist es wegen dem Familienessen morgen?“, erkundigte sich Hamid und drückte die Pause-Taste; der Puma fror mitten im Sprung mit aufgerissenen Fängen ein und würde vorerst auf seine Genugtuung warten müssen.
„Ja, davor werden wir uns wohl kaum drücken können“, entgegnete Cynthia, bevor sie die Stirn runzelte und dann hinzufügte: „Ich hätte Mom nie ein Smartphone kaufen dürfen.“
Hamid sah sie erstaunt und etwas amüsiert an. „Wieso denn? Was hat sie jetzt wieder angestellt?“
Wortlos hielt sie das Handy so, dass er die Nachricht lesen konnte. Er musste die Augen zusammenkeifen, um den Buchstabensalat zu entziffern und las dann sehr langsam laut vor: „Klmöpdfösflsfnlfnfsjf? Was soll das bitte heißen?“
„Kein Plan“, entgegnete sie schulterzuckend. „Vermutlich, dass sie nicht weiß, wie man Tippfehler löscht und Leerschläge macht.“
„Klmöp klingt, wie wenn man jemandem mit einem Hammer eins überzieht“, grübelte Hamid bevor er trocken ergänzte: „Auf Schwedisch.“
Cynthia brach in Gelächter aus und erwiderte: „Im Deutschen hast du auch jede Menge Umlaute und beschwerst dich nicht ständig. Und was machst du aus dem Rest?“
Er sah wieder auf das Display und nahm dazu einen großzügigen Schluck von seinem Eierpunsch. „Dfösfls, das ist definitiv eine Klospülung. Oder ein Klo, das überläuft.“
„Wie kommst du auf den Scheiß?“, wollte Cynthia, die sich auf der Couch ausgestreckt hatte, amüsiert wissen. Er ließ sich aber nicht beirren und las weiter: „Fnlfn. Ein Rentier mit Verstopfung oder Schnupfen, ich kann mich nicht entscheiden, was meinst du?“
„Rudolph hat Schnupfen, die Nase ist ja schon rot“, sagte Cynthia und griff wieder in die Keksdose, bevor sie mit einem Zimtstern in der Hand dalag und ihn herausfordernd musterte. „Weiter!“
„Fsjf. Der ist schwierig.“ Hamid schwieg kurz und überlegte, doch sein Gesicht hellte sich rasch auf. „Genau!“, rief er mit seiner Idee zufrieden aus. „Ein Fensterputzmittel, das ist das Geräusch, das die Sprühflasche macht, wenn man es aufs Glas sprüht.“
„Ich fasse zusammen“, begann Cynthia mit vollem Mund und schluckte rasch den Zimtstern herunter, um nicht die Couch mit Krümeln zu bespucken. „Mom will mir eins auf die Rübe geben, mich das Klo runterspülen, ein Rentier mit der Grippe infizieren und Fenster putzen?“
„Klingt das nicht nach einem typischen Weihnachtsfest bei deiner Familie?“, fragte Hamid schalkhaft. Sie setzte zu einer Antwort an, als mit einem Mal das Bild auf dem Fernseher schwarz wurde, alle Lichterketten erloschen und die Konsole ein sterbendes Geräusch von sich gab, als sie abrupt ausschaltete. Nur noch im Schein der Kerzen starrten sich die beiden kurz schweigend an. Nach einer Weile unterbrach Cynthia die Stille und murrte: „Na super, Stromausfall. Der Sturm muss ein paar Leitungen erwischt haben.“
„Und die Handyantenne, ich habe kein Netz mehr“, fügte er hinzu und legte das Telefon weg, um die Rollladen hochzumachen. Vor dem Fenster tobte der Sturm weiter und eine große Tanne, die nicht allzu weit vom abgelegenen Haus stand, war umgeknickt. „Die Straße wird auch blockiert sein“, seufzte er.
Cynthia dachte kurz nach, bevor sie mit neu gewonnener Motivation aufsprang. „Okay, wir sind eingeschlossen. Machen wir ein Feuer im Kamin und werfen ein paar Zimtstangen rein, das ist auch weihnächtlich.“
„Wenn du meinst.“ Hamid wirkte noch nicht ganz überzeugt von ihrem improvisierten Vorschlag, doch sie konnten genauso gut das Beste aus ihrer Lage machen, also schlug er vor: „Ich habe irgendwo noch ein Eile-mit-Weile-Spiel rumliegen, ich suche das mal.“
Cynthia erhob sich und trat an den Kamin und begann damit, ein Feuer anzuzünden. „Wenn wir abgeschnitten sind, wird das morgen mit dem Weihnachtsessen wohl auch nichts mehr.“
„Das ist vielleicht besser so“, entgegnete Hamid und kramte dazu in einer Schublade herum. „Nichts gegen deine Familie, aber ich weiß nicht, ob ich mich so wohl fühlen würde, wenn deine Mutter ein überlaufendes Klo hat und Rentiere mit Schnupfen infiziert.“
„Dafür würde sie in deinem Szenario auch die Fenster putzen. Alles hat eine positive Seite.“ Cynthia entfachte ein Streichholz, musste aber achtgeben, dass der Wind, der durch den Kamin fegte, es nicht gleich wieder ausblies. Konzentriert zündete sie die Zeitung an, die sie zusammengeknüllt unter das aufgeschichtete Holz gelegt hatte. „Wir müssen aufpassen, dass es uns nicht die Glut auf den Teppich bläst, sonst fackelt gleich die ganze Bude ab.“
Hamid wirkte von der Vorstellung nicht sonderlich begeistert, ließ sich aber seinen Humor nicht nehmen. „Das wäre schlimm. Wenn wir lebendig verbrennen, können wir nicht mehr herausfinden, was Klmöpdfösflsfnlfnfsjf wirklich bedeutet.“
Cynthia wandte sich vom Feuer ab und starrte ihn mit aufgerissenen Augen an. „Du konntest dir das Wort merken?“
„Ich kann mir auch alle Cheat-Codes merken“, meinte er und stellte das Spiel auf den Couchtisch. „Das bringt mich aber auf eine bessere Idee als Eile mit Weile.“
„Und die wäre?“ Ihr war die Skepsis anzusehen, denn sie wusste aus jahrelanger Erfahrung, dass seine Ideen manchmal zu sehr skurrilen Ergebnissen führen konnten.
„Ganz einfach – wir versuchen, möglichst viele Interpretationen für das SMS deiner Mom zu finden, wer die lustigere hat, gewinnt die Runde.“
Cynthia legte nur für einen Augenblick die Stirn in Falten, bevor sie sich entschlossen hinsetzte. „Okay, der Verlierer trinkt ein halbes Glas Eierpunsch.“
Hamid warf sich dramatisch in Pose und verkündete: „Und das, liebe Freunde, ist die Geschichte davon, wie Klmöpdfösflsfnlfnfsjf zum neuen Weihnachtsspiel wurde. Frohe Feiertage!“
Hat dies auf Wunderwaldverlag rebloggt.