Dies ist der 5. Teil der Fortsetzungsgeschichte „Wissen ist Macht“.
Charlene hatte immer eine große Klappe gehabt, doch diese Zeiten waren vorüber. Jetzt stand sie einfach nur da und betrachtete mit einem zufriedenen Lächeln die Auslagen in der Parfümerie, mit kindlicher Neugier, ganz so, als hätte sie noch nie zuvor etwas Derartiges gesehen. Seit sie vor etwa einem halben Jahr von der Insel zurückgekehrt war, war sie nicht mehr dieselbe Person wie zuvor. Sämtlicher Trotz, Widerstand, ja gar ihre ganze Sturheit waren von ihr gefallen, als hätte sie sich gehäutet und wäre dabei als neuer Mensch auferstanden. Immerhin hatte sie keine Probleme mit Zahnausfall, die mache der anderen Rückkehrer von ihrem angeblichen Erholungsurlaub zurückbehalten hatten. Ich hätte mir gerne etwas anderes vorgemacht, doch ich hasste die neue Charlene. Sie war nichts weiter, als die leere Hülle meiner Schwester, bedeutungslos, ziellos. Ein Ding.
Rasch wandte ich mich von ihr ab, ich wollte mir das nicht mehr mitansehen. Nach ihrer Rückkehr war Charlene bei mir eingezogen. Offenbar traute man einer Offizierin des Wissenskorps zu, ihre Schwester auch dann bei sich aufzunehmen, wenn diese eine geläuterte Ideologieverbrecherin war. Manchmal faszinierte es mich, dass ich scheinbar das Vertrauen der Behörde gewonnen hatte, doch ich zweifelte keine Sekunde daran, dass sie mich nicht trotzdem abhörten und jede meiner Bewegungen beobachteten. Aber das war schließlich normal, also gab es gar keinen Grund mir darüber Sorgen zu machen. Zumindest so lange ich still blieb und brav spurte. Wir waren alle nichts weiter als Hamster in unseren Rädern, die sinnlos auf der Stelle rannten um beschäftigt zu bleiben, überwacht von anderen Hamstern. Damit gehörte ich zu den beobachteten Beobachtern, zu denen, die sich lächelnd keinen Fehler, nicht den geringsten Ausrutscher leisten durften. „Smile“, wie die Plakate, die sogar hier auf dem Land überall hingen, mit ungewolltem Zynismus verkündeten.
Wie genau mich Charlene zu dem Ausflug in das Dorf meiner Kindheit überredet hatte, war mir ein Rätsel. Wer oder was auch immer sie geworden war, es kam mir vor wie die Entweihung meiner Erinnerungen, ein Sakrileg. Mit diesem gehorsamen Häufchen Elend vor meinem früheren Elternhaus spazieren zu gehen – purer Hohn. Ich könnte unmöglich beschreiben, was in mir vorging, wenn ich abends von meiner Arbeit als Lakai eines mir verhassten Regimes nach Hause kam, nur um dann ein weiteres Produkt ebendieses Regimes in meinem Apartment vorzufinden, das unser Abendessen kochte. Wieso hatte ich mich nur auf so etwas eingelassen? Manchmal wünschte ich mir, dass ich einfach meine Dienstwaffe ziehen und sie aus ihrem Elend erlösen könnte.
Ein großer Handwerker mit Waschbrettbauch, welcher sich unter seinem viel zu engen Arbeitsoberteil abzeichnete, betrat die Parfümerie und riss mich aus meinen Grübeleien. Ich wäre ihm am liebsten dankbar um den Hals gefallen, denn ich hätte es keine Minute mehr mit diesen Gedanken ausgehalten. „Hey, Chris“, rief der Muskulöse dem Verkäufer zu und trottete an mir vorbei, „ich brauche ein Geschenk für meine Frau!“
Ich beobachtete die beiden unauffällig, während sie sich über Parfüms zu unterhalten begannen. Die Wachsamkeit oder, wenn man so wollte, Paranoia war etwas, das man nicht abstellen konnte. Die Zeit, die ich im Widerstand verbracht hatte, hatte ihre Spuren hinterlassen. Der Handwerker wirkte nicht wie jemand, der sich gut mit dem geschniegelten Parfümeur verstehen würde und ich wurde das diffuse Gefühl nicht los, dass irgendwas bei der Sache nicht stimmte. Meine Hand glitt der lockeren Freizeitkleidung entlang unter die Lederjacke, dahin wo ich meine Pistole trug. Ich wusste selbst nicht, wieso ich so nervös und alarmiert war und ich zwang mich, von der Waffe abzulassen. Egal was es war, ich durfte nicht überreagieren, versuchte ich mich zu überzeugen und sofort flackerten unzählige Bilder des letzten Jahres durch meinen Kopf. Die sporadischen Anrufe des Mannes, der sich den Decknamen „Hammer“ gegeben hatte, stimmten mich zuversichtlich. Er hatte mir nicht besonders viel verraten, nur, dass ich nicht die letzte Widerstandskämpferin war, dass es andere gab, solche, die einen Plan hatten. Vielleicht waren auch diese nichts weiter als ein Haufen Idealisten, die sobald sie handelten sehr wahrscheinlich den Preis dafür mit ihrem Leben würden bezahlen müssen. Aber es war besser als nichts. Ich musste daran glauben, ich brauchte etwas, woran ich mich festhalten konnte, ein letztes Fitzelchen Vernunft in einer verrückten Welt. Die Hoffnung darauf, eines Tages wieder sagen zu dürfen, was ich dachte, ohne dass Leute von der Gedankenpolizei gleich die Wohnungstür aufsprengen würden. Dass nicht irgendwo ein Trottel an einem Schreibtisch zu entschieden hatte, ob meine Aussage gegen die Verhaltensregeln verstößt. Solche Trottel wie ich, musste ich zugeben, denn genau das war es, was ich tat und sofort erschauerte ich bei dieser Vorstellung.
„Vielen Dank“, erklang die tiefe und tragende Stimme des Handwerkers, der eben am Fingerabdruckscanner das Parfüm bezahlt hatte und nun in eine Tüte steckte. Ich konnte gerade noch das kleine weiße Tütchen erkennen, dass der Verkäufer ihm zugesteckt hatte und wäre beinahe in Gelächter ausgebrochen – er war nur ein verdammter Drogendealer! Ich sehe mittlerweile schon hinter jeder Ecke Agenten, die mich beobachten, die es auf mich abgesehen haben …
„Hey, ist das nicht die kleine Charlene?“ Der brummende Ausruf ließ mich herumfahren und ich konnte sehen, wie der Handwerker zu meiner Schwester getreten war. Ihr Ausdruck wandelte sich von dem leicht abwesenden Lächeln zu aufrichtiger Freude: „Ronnie?“, fragte sie erstaunt. „Bist du Ronnie, der in der Parallelklasse gewesen ist?“
„Genau“, meinte er uns streckte ihr seine Hand hin. „Wie geht es dir?“
„Wieder besser, ich habe vor kurzem einen Erholungsurlaub gemacht.“ Ronnie erstarrte und sah für einen Augenblick beschämt zu Boden, er schien begriffen zu haben, dass sie auf der Insel gewesen war. Charlene hatte offenbar von alledem nichts mitbekommen, denn sie erkundigte sich fröhlich: „Und, was machst du so?“
Ronnie hatte sich schnell wieder gefangen. „Ich bin der Dachdecker unserer kleinen Gemeinde.“
Ich wollte schon hinzutreten und fragen, wieso es diesen Beruf hier draußen noch gab, weil bei uns in der Stadt viele Handwerkerarbeiten längst von einfachen Robotern erledigt wurden, doch irgendwas hielt mich davon ab. Das hier war meine Vergangenheit, nichts weiter als eine bedeutungslose Erinnerung. Ich war jetzt ein anderer Mensch, eine Regierungsbeamtin der Behörde, welche meine Schwester auf die Insel geschickt hatte und eine Widerstandskämpferin, keine verfluchte Touristin, die das Dorf ihrer Kindheit besuchte, um in Nostalgie zu schwelgen. Charlene – ich hatte noch immer Mühe, sie so zu nennen, seit sie zurück war – und Ronnie unterhielten sich noch eine Weile und dann schüttelte er zum Abschied ihre Hand und verschwand aus der Tür im sonnigen Nachmittag. Gerne hätte ich ihm „Viel Spaß mit den Drogen, Ronnie“, hinterhergerufen, doch der billige Spruch wäre alles andere als klug gewesen, schließlich wusste man nie, wer zuhörte. Also schlenderte ich stattdessen zu Charlene und fragte: „War das der Ronnie, mit dem du als Kind viel gespielt hast?“
Sie nickte stumm und wandte sich wieder den Parfüms zu. Natürlich sprach Charlene nicht über das, was sie mit ihr gemacht hatten, wieso sie so geworden war. Doch ich begriff, dass sie nie wieder zur selben Welt wie Ronnie gehören würden, der hier draußen sein Leben genoss und wohl ab und an etwas Gras rauchte. Es gibt Entscheidungen, die man nicht rückgängig machen konnte und Orte, von denen man nie wirklich zurückkehrte.
„Schau mal“, murmelte Charlene kaum verständlich und deutete mit ihrem bleichen Finger auf einen Flacon, auf dem ein Enzian aufgedruckt war. Das Parfüm, das unsere Mutter immer getragen hatte, damals, vor langer Zeit, als wir noch Eltern hatten. Jetzt war nur noch ich da, ich und das, was von Charlene noch übrig war. Ihr Schweigen hatte lange gedauert und ich setzte schon zu einer unbedarften Antwort an, als sie fortfuhr: „Weißt du noch?“
„Ja“, gab ich leise zurück und versuchte, den Kloß in meinem Hals herunterzuschlucken. Charlene hatte eine alte Wunde aufgerissen und als ich aufsah, konnte ich in ihrem Gesicht dieselbe Wehmut lesen. Da hatte vielleicht etwas überlebt, etwas von ihr, dass sie ihr nicht hatten nehmen können, Erinnerungen und Gefühle – die echte Charlene. Hastig blinzelte ich eine Träne weg. Ich überlegte mir gar nicht, was ich sagte sondern sprach einfach: „Du hast noch mich, ich werde dich nicht im Stich lassen.“
Unsicher griff Charlene nach meiner Hand. Ich umfasste sie rasch und hielt sie fest. Erst dann begann mir zu dämmern, was das für mich bedeutete – ich machte mich angreifbar und verletzlich, ließ Schwäche zu. Ich würde mich zwischen meinen Idealen und meiner Schwester entscheiden müssen.
schnief :‘)… Megalotastisch!
Lieber Clue-Spender,
Das freut mich natürlich sehr, dass du die Story megalotastisch fandest :)
Mit lieben Grüssen und den besten Wünschen,
die Sarah
Das schnürt mir wieder dermaßen den Hals zu… Aber toll gemacht. Ich wünschte bloß, es würde endlich enden, ich dachte ja schon beim letzten Mal es sei schon aus…
Erstmal danke für den Kommentar (und sorry, hat es etwas länger gedauert, unser Spam-Filer ist letzthin zeimlich aggressiv oO).
Leider muss ich dich da enttäuschen, bei dieser Geschichte fehlen noch einige Folgen, doch ich kann dich beruhigen, sie wird früher oder später enden :) Ich hoffe, dass sie trotz allem spannend ist und sich dir nicht allzu sehr der Hals zuschnürt!
Liebe Grüsse von den Clue Writern
Sarah