Dies ist Rahels Teil einer Kurzgeschichten-Kollaboration. Sarahs Story findet ihr hier.
„Toby“, blaffe ich ungehalten ins Headset. „Wo zum Teufel steckst du?“ Behände weiche in einem heranrasenden Auto aus, rolle mich über den Terrassenabsatz und ziehe meine Lieblingswaffe, einen veralteten Karabiner, noch bevor ich auf dem Sand lande. Der erste Schuss geht ins Nirgendwo, der zweite zerschlägt den Scheinwerfer und der Dritte trifft sein Ziel, den Schädel des Fahrers. In der Verbindung knackt es, dann meldet sich Toby spöttisch: „Wieso? Kommst du ohne mich schlecht klar?“ Gepresst weise ich ihn an, kurz zu warten, erledige einen Scharfschützen auf dem Kioskdach an der Promenade und meine anschließend: „Ich brauche vieles, Toby, einen neuen Wagen, Haftbomben, Munition … Aber ganz bestimmt nicht dich.“ Er grunze erheitert. „Los, mach hin. Am Pier ist die Hölle los, das willst du keinesfalls verpassen.“ Ein mir bekanntes Zischen bedeutet mir, mich hinter einen Pavillon zu stürzen, um aus der Schussbahn des Raketenwerfers zu gelangen. Die Detonation zerlegt drei geparkte Autos und reißt einige unspielbare Passanten ins Inferno. „Bin auf dem Weg“, kann ich über das losbrechende Geschrei auf unserer Funkfrequenz ausmachen. „Klau mir rasch einen fahrbaren Untersatz. Irgendwelche Wünsche?“, möchte Toby hörbar gelassen wissen. Wo auch immer er rumlungert, er scheint einen der wenigen idyllischen Plätze in der Stadt gefunden zu haben. „Ein Panzer wä… Scheiße!“ Von einer unerklärlichen Explosion erfasst, fliege ich mehrere Meter durch die angenehm heiße Luft, ehe ich seitlich gegen eine Treppe geschleudert werde und mein Rückgrat am Geländer entzwei schnappt. Schwer verletzt komme ich auf dem Asphalt zu liegen, hinter mir die Tribüne, auf welcher zu friedlichen Zeiten Straßenkünstler ihre Vorstellungen aufführen, über mir der strahlendblaue Küstenhimmel, dessen Farbe langsam verblasst. Die Welt wird schwarz-weiß, mein Herzschlag schwächer und kurz bevor ich sterbe, sehe ich eine Möwe ihre kunstvollen Manöver flattern. „…rk? Hey, Mark, kannst du mir verraten, wo du bist? Du bist vom Radar verschwu…“ Alles um mich herum wird Pechschwarz.
Als ich aufwache, erblicke ich die glimmenden Lichter einer nächtlichen Stadt in der Ferne. Nein, nicht in der Ferne, sondern unter mir! Wo bin ich? Erschrocken will ich aufspringen, mich in Kampfposition begeben, doch mein Leib weigert sich zu reagieren, kein einziger Muskel folgt den Anweisungen. Es dauert eine Weile, bis ich endlich verstehe, weshalb ich bewegungsunfähig in Bauchlage über Hochhäuser, Straßen und Gefechtsblitze schwebe; ich bin körperlos! Panik steigt in mir hoch, wenn ich nur wüsste, wie ich ihr Ausdruck verleihen kann. In den tiefen Häuserschluchten unter mir kann ich vage Gestalten erkennen, die sich mit surrealer Akrobatik jagen, ein regelmäßiges, ohrenbetäubendes Pochen vibriert durch die Atmosphäre. „Was ist geschehen?“, will ich mich wundern, bloß drängt sich eine weitaus bedeutendere Frage in den Vordergrund: „Wer bin ich?“
„Du Idiot!“ Die Worte scheppern direkt in meinen Gedanken, werden von einem schallenden Lachen unterbrochen. „Musst du unbedingt sterben, sobald ich bei dir bin?“ Die Stimme kommt mir bekannt vor, irgendwie. Ich glaube, das ist mein Freund, mein Kamerad im Kampf, dummerweise habe ich keine Ahnung, woher ich das weiß. Sein Name ist Toby, fällt mir auf einmal ein, Toby Eins-Drei-Drei-Sieben! „Toby“, krächze ich und stelle erstaunlich nüchtern fest: „Ich bin tot. Komme gleich.“ Meine eigene Gewissheit, dass ich nach meinem Ableben einfach so mir nichts dir nichts umkehren werde in diesen Höllenschlund, verwirrt mich. „Beeile dich, hier kurvt ein Arschloch in einem Helikopter rum“, beschwert sich Toby und fügt hinzu: „Wir sind noch am Pier.“ Kaum hat er das gesagt, versinkt das Universum schon wieder in absoluter Dunkelheit.
Urplötzlich manifestiere ich mich in voller Kampfmontur an einer Straßenecke. Ein paar Autos schleichen im Schritttempo vorbei, ein Hotdog-Verkäufer verkündet lautstark, wie heiß seine Würstchen sind, einige davon seien sogar frisch, behauptet er. Vorsichtig mache ich einen Schritt nach vorn, sehe mich um und versuche herauszufinden, in welcher Richtung der Pier liegt. Wie jedes Mal nach einer Wiederauferstehung fluten alle Erinnerungen auf einmal zurück in meinen Verstand, nein, das ist falsch, sie sind schlichtweg da, so als wären sie nie weg gewesen und bald schon vergesse ich meinen flüchtigen Aufenthalt im Limbo. „Toby, ich bin jetzt in der Nähe vom Parkhaus.“ Verschiedene Leute reden wild durcheinander, sodass ich mir unsicher bin, ob mein Kumpel mich lediglich nicht gehört hat oder ob er nun ebenfalls gestorben war. „Toby?“, rufe ich wiederholt, zerre nebenher eine junge Dame aus ihrem Cabriolet. „Toby, bist du da?“ Zu meiner Überraschung fährt sich der grellpinke Wagen relativ gut, er meistert sogar die Abkürzung durch die Shoppingmeile mitsamt den Stufen mühelos. „Bin … Beschäfti-Argh!“, erklärt der Angesprochene, unfreiwillig das Massaker am Strand veranschaulichend. Ich beschleunige, mähe einige Einkäufer um, schieße aus der schmalen Fußgängerzone und brettere schließlich über die Planken zum Pier.
Toby hatte keine Witze gemacht, er ist tatsächlich beschäftigt und zwar damit, den garstigen Helikopter zu erwischen, dessen Wärmesuchraketen sich als äußerst praktisch für den Piloten, allerdings fatal für alle anderen herausstellen. Etwas ungeschickt setze ich das Cabriolet gegen das Schaufenster eines Touristenladens, hechte heraus und geselle mich dann zu meinem Freund, der neben eben der Treppe kauert, an deren Geländer meine Wirbelsäule zerborsten war. „Na, wie läuft‘s?“, erkundige ich mich erheitert über Tobys angestrengtes Keuchen. „Halt die Klappe“, gibt dieser angefressen zurück und mir wird sofort klar, er würde nun solange auf den Helikopter ballern, bis dieser entweder im Flug explodiert oder Toby nach mehreren Toden frustriert das Handtuch wirft. Keine sonderlich spaßige Aussicht. „Ich geh mal pinkeln“, seufze ich und bleibe dann regungslos hinter Toby in der Deckung.
„Ha! In die Nüsse“, jubiliert jemand über die Lautsprecher, als ich, oder besser, mein sorgfältig gestalteter Avatar, zu Boden sinkt und in einer ungelenken Position sein vorübergehendes Ende findet. Ich beobachte das übliche Schauspiel auf dem Fernseher durch die geöffnete Badezimmertür und rolle mit den Augen. „Stirb schön, du Looser“, kichert die junge Frau, die sich irgendwo auf dem Planeten darüber freut, mich in einer Pinkelpause übervorteilt zu haben. Das war nun der sechste Tod in Abwesenheit, zwei weitere folgen, ehe ich meine Hände waschen und um den Controller legen kann. Heute dauert es länger als üblich, bis ich mich gedanklich vom Feierabendzocker erneut in den Straßenkrieger auf dem Bildschirm verwandle, nicht zuletzt weil Tobys Nörgelei wenig Laune macht. In sein Mikrofon brüllend stürmt er an mir vorbei, zückt seinen Raketenwerfer und verfehlt den Helikopter abermals. Unzählige Polizisten folgen ihm auf dem Fuße, ballern wie wild auf ihn, sodass ich mich gezwungen sehe, ins Geschehen einzugreifen. „Toby, pass auf!“, kreische ich aus vollen Lungen, leider zu spät. Mein Kamerad, in den Polygon-Kampf um die Straßen von Los Santos vertieft, fällt in sich zusammen. „Fuck! Na wartet, ihr beschissenen Ficker!“ Während ich einen Uniformierten um den anderen in den seltsamen Ort im Himmel schicke, von dem man stets wiederkehrt, um Toby zu rächen und dem gleißenden Feuer des Helikopters ausweiche, gelingt es mir allmählich, mein reales Leben beiseitezuschieben.
Kugeln sausen dicht an mir vorbei, treffen meinen bereits stark verwundeten Körper und da, just als ich denke, es gäbe keine Hoffnung auf Rettung, die neuerliche Reise in die Vorhölle sei unumgänglich, geschieht das Unglaubliche. „In den Kopf“, murmle ich erst ungläubig und posaune dann stolz, „In den verfluchten Kopf, Bitches!“ und beobachte selbstzufrieden den Helikopter, der in Kreisen vom Himmel stürzt.