Diese Story ist auch als Hörgeschichte erschienen.
„Komm, mach die Tür zu“, befiehlt Jamal heiter. Ich gehorche, lausche dem Klackern seiner Gürtelschnalle und starre in die Ecke des zerschlissenen Posters vis-à-vis der Kopiermaschine. Ein grunzendes Ächzen ertönt, begleitet vom Rascheln seiner Jeans, dann meint er: „Es kann losgehen.“ Ich wende mich ihm zu, lache daraufhin lauthals los. Da sitzt er nun, auf der Glasplatte des Kopierers. Die heruntergelassene Hose hängt in den Kniekehlen und seine Hände verdecken mir leider die Sicht, dafür schenkt er mir sein charmantes Grinsen, ein extra-breites noch dazu.
„Moment, du musst das Bein hochheben“, weise ich ihn an und merke, wie sich ein unangenehm nervöses Kribbeln in meiner Magengrube ausbreitet.
„Das Ding braucht eine Fernbedienung“, schlägt er ungelenk seine Wade haltend vor.
„Ja. Schreiben wir eine Vorschlagsmail an den Hersteller, schließlich ist das Vervielfältigen von Körperteilen ein beliebtes Hobby in Büros.“
Er kichert ob meines Kommentars, drängt mich dann zur Eile. So schnell wie möglich schiebe ich meine Finger unter seinen Oberschenkel, drücke die grüne Taste und ziehe sie sogleich wieder weg. Ich befürchte, er könnte mein Zittern bemerken, meine Berührung als unangenehm empfinden oder sich wundern, wieso ich ihn zu lange anfasse. Er gluckst, zappelt mit den Füßen und spielt für wenige Sekunden einen Cowboy, der sein wildes Kopiergerät zureitet. „Yeeeehaw!“
Wir verziehen uns oft in den Kopierraum, denn seit das neue IT-System im Unternehmen eingeführt wurde, wird der staubige Raum im Erdgeschoß kaum genutzt. Ich habe damals einen Monat vor ihm hier angefangen und mich fürchterlich deplatziert gefühlt. Vier Wochen später tauchte Jamal auf. Seine Krawatte baumelte traurig an ihm herab, das Sakko wollte nicht richtig passen, trotzdem sah man an seiner Körperhaltung sofort, dass er Großes vorhatte. Wir haben uns rasch angefreundet und sind auch vier Jahre später unzertrennliche Bürokumpels. Die anderen Anwälte nennen uns Riggs und Murtaugh, wahrscheinlich in erster Linie aufgrund seiner dunklen und meiner hellen Hautfarbe, denn ansonsten haben wir keine Gemeinsamkeiten mit dem ungleichen Ermittlerpaar.
„Jetzt du“, fordert Jamal, amüsiert die Kopie seines Hinterns betrachtend.
„Keine Lust. Mein haariger Arsch wurde schon zu oft kopiert.“ Das Kopieren unserer verlängerten Rücken ist mehr oder weniger zu einem Ritual für uns geworden, das uns zwischen harten Verhandlungen, langweiligen Sitzungen sowie anstrengenden Fallbesprechungen aufmuntern sollte. Einmal habe ich sogar eines von Jamals Schwarzweißbildern mit nach Hause genommen, es in der Schublade im Flur versteckt.
„Du hast recht.“ Aus dem Konzept gebracht – Jamal, ganz Anwalt, stimmt mir selten ohne Debatte zu – blinzle ich ihn an. „Lass uns etwas anderes kopieren.“
„Äh, wir haben neulich erst Grimassen kopiert“, gebe ich zu bedenken und überlege, ob ich zum Mittagessen in die Kantine oder zum Inder nebenan gehen will, da schlägt Jamal vor: „Wir wärs mit deiner Zimtschnecke?“
„Meine Zimtschnecke?“ Ich habe keine Ahnung, wovon er redet, dafür bekomme ich Hunger auf Süßgebäck, vielleicht also doch zum Bäcker statt zum Inder.
„Deinen Schwaz, du Sack“, erklärt er schulterzuckend, macht zwei Schritte auf mich zu und greift mir ohne Hemmung an den Hosenbund.
„Ich bin schwul!“ Es platzte einfach aus mir raus.
Ich hätte es ihm früher sagen müssen. Er ist mein Freund, er hat ein Recht es zu wissen, insbesondere weil er sich regelmäßig vor mir umzieht. Bloß hatte ich schreckliche Angst vor seiner Reaktion, wollte ihn nicht verlieren und jetzt ist es ausgesprochen. Es gibt kein Zurück.
„Ach“, macht er von meiner Hose ablassend. „Okay. Aber wieso weigerst du dich deswegen dein Stück zu kopieren?“ Verdattert verweile ich mit halb aufgeknöpftem Beinkleid vor Jamal. Ich habe mit einigem gerechnet, nur nicht mit vollkommenem Desinteresse. Ich hätte ihm gerade so gut gestehen können, ich habe Fußpilz oder eine heimliche Vorliebe für Käseschnitten mit Marmelade, dermaßen egal schien es ihm zu sein.
„Stört dich das nicht?“, frage ich schlussendlich.
„Nö, sollte es?“ Er lehnt sich an den Tisch und stößt dabei eine Stiftbox um. „Willst du dich darüber unterhalten?“
„Nein, es ist … Ich hatte nicht damit gerechnet, dass …“, stottere ich hilflos, bevor er mich mit einer freundlichen Miene zum Schweigen bringt.
„Du hast gedacht, ich finde meinen Kumpel plötzlich doof, weil der sich nicht für Titten begeistern kann? Blödsinn.“
Ich schlucke, dann beginne ich langsam zu verstehen, was gerade passiert. Jamal war keineswegs verärgert oder gar angewidert von meinem Geständnis, ich hätte ihm von Anfang an vertrauen können.
„Danke“, flüstere ich und schaffe es endlich, sein Lächeln zu erwidern.
„Kein Problem. So, Hose runter und Gehänge auf die Platte.“
Modernismus in der Kirche meiner Mutter, Akzeptanz vom Stammtisch meins Vaters und nun der entspannte Ausdruck im Gesicht des Mannes, dem ich mich soeben offenbart habe. Jamal streicht sich die Haare aus den Augen, begutachtet das mehrheitlich schwarz gefärbte Papier, runzelt die Stirn, verzieht den Mund zu einem Schmunzeln und boxt mir anschließend auf den Oberarm.
„Prächtig! Das hängen wir im Konferenzraum ans Whiteboard“, plärrt er und entwischt in den Flur. Während ich ebenfalls aus dem Kopierraum renne, geht mir einiges durch den Kopf. Vor allem, wie viel Glück ich habe, für mein Umfeld mehr zu sein, als ein eigentlich irrelevantes Label. Ich nehme mir vor, anderen in meiner Situation Mut statt Paranoia zu vermitteln und für einen kurzen Moment darf ich den Druck vergessen, unter welchem so viele täglich leiden.