Wie schon zweimal zuvor erhielt Ariel seine Karteikarte erst einen Tag vor dem eigentlichen Auftrag – fein säuberlich in einem zugeklebten Umschlag.
Jargo, der kleine Boss, schaute ihn ernst an. „Morgen um zehn Uhr erwartet dich beim angegebenen Bahnhof ein Herr Lehm. Da bekommst du auch dein Lieferauto.“ Jargo sagte es mit einem Augenzwinkern, wussten doch beide, dass es sich wahrscheinlich um einen schnellen Sportwagen handelte. „Sei pünktlich.“
Ariel nickte. Er verließ so cool wie möglich die Lagerhalle. Verhalte dich wie James Bond, murmelte der Teufel auf seiner Schulter, undurchschaubar. Der Engel auf der anderen Seite schnaubte nur verächtlich Wunschdenken.
Am nächsten Tag betrat er einen ihm unbekannten Teil im hinteren Bereich des Düsseldorfer Bahnhofs. Das Gemäuer wirkte etwas arg heruntergekommen. Er fühlte sich in dem Anzug, der für seine Art Job vorgeschrieben war, leicht overdressed. Äußerlich ruhig ging Ariel weiter.
Nach einer Weile entdeckte er in der Nische eine Person, die komplett von einer Rauchwolke eingehüllt war. Er schritt auf das alte Räuchermännchen zu. Bei näherer Betrachtung konnte er höchstens fünfzig zu sein. Einen Haltungsfehler hatte er auch, denn er saß leicht schief.
„Hallo Ariel, ich warte schon eine Weile auf Sie.“
Das konnte gar nicht sein, er war immer pünktlich. Obwohl der Teufel auf seiner Schulter ihn vehement dazu anhielt, verkniff sich Ariel einen Kommentar und brummte eine Entschuldigung. Er wusste, wann es besser war, zu katzbuckeln. Dieser Typ mit seiner veralteten Hornbrille schien zwar seriös, aber Ariel blieb wachsam.
„Wie finden Sie Düsseldorf? Ich heiße übrigens H.“
„Ganz okay.“ Wollte er jetzt Smalltalk betreiben? Und wieso H statt Lehm? Ariel wurde zunehmend nervöser.
„Sie sind neu im Geschäft, was? Also dann, ans Eingemachte. Hier ist der Schlüssel für Ihr Fahrzeug sowie der Plan. Das Auto finden Sie um die Ecke auf einem Privatparkplatz.“
Ariel nahm beides entgegen. Er wusste bereits, erst holte er das Päckchen bei A ab, beförderte es quer durch Deutschland zu B. Und was auch immer es dafür gab zurück zu C.
„Sie kennen die Details sicher schon.“
„Klar, zudem alles top secret. Niemanden in die Nähe der Unterlagen lassen. Blablabla.“
H schmunzelte. „Sie sind gut vorbereitet. Seien Sie trotzdem auf der Hut.“ Dabei drückte er Ariel einen Umschlag in die Hand.
„Was ist das?“
„Futter für die Neider.“ Mit diesen Worten verabschiedete er sich.
Ariel war zwiegespalten, was er damit machen sollte. Der Teufel rief Behalte es, das braucht der Boss nicht zu erfahren, der Engel auf der anderen Schulter jedoch flüsterte Wenn nun Jargo dahinter kommt! Das ist es nicht wert!
Schnell verließ Ariel den Bahnhof und lief in Richtung Parkplatz. Dort angekommen suchte er den Toyota GT86, bei dem sein Schlüssel funktionieren müsste. Er schwenkte das Teil unauffällig in jede Richtung, bis es klickte. Ariel stieg ein und checkte nach Vorschrift die Fahrzeugpapiere. Alles koscher. Anschließend zog er den Umschlag aus der Innentasche seines Jacketts. Ein Bündel mit Zweihunderterscheinen. Einige hatten eine winzige Kokosnuss aufgestempelt. Merkwürdig. Und welche Neider hatte H gemeint? Wer war das überhaupt? Vielleicht müsste er Jargo anrufen.
Er sah den Nimbus des Engels im Rückspiegel: Ja, bitte. Könnte eine Falle sein.
Der Teufel widersprach Ach was, lass den Quatsch. Behalt das Geld einfach!
Uneins mit sich selbst startete Ariel den Motor des Autos. Auf dem Plan war eine Location in den Katakomben des Hamburger Bahnhofs bei A eingezeichnet.
Als Ariel in Hamburg ankam, bemerkte er als erstes die schwarzen Wolken am Himmel. Vielleicht schaffte er es noch im Trockenen. Zunächst fuhr er in ein Parkhaus und lief später ohne Jackett zu der im Plan angekreuzten Stelle im Bahnhofsgebäude zurück. Kurz bevor er sie erreichte, peitschte ihm heftiger Regen ins Gesicht. Der orkanartige Wind hätte ihn beinahe die dunkle, steile Treppe hinter der unauffälligen Tür hinab geweht. Laut krachend fiel sie hinter Ariel ins Schloss.
Mir gefällt das nicht flüsterte der Engel.
Nun geh schon runter herrschte ihn der Teufel an.
Langsam trat Ariel die ersten Stufen hinab. Unten angekommen breitete sich ein schwach beleuchteter Gang aus. Es roch muffig hier unten.
„Pssssst“, ertönte es. Eine Gestalt in einem abzweigenden Seitengang winkte ihn zu sich. „Sie sind Ariel?“, fragte er.
„Ja. Ich soll –“
„Mann, ich weiß! Es gibt da nur ein Problem.“
Wärst du mal lieber wieder gegangen, raunte der Engel. „Ruhe!”, sagte Ariel. Dummerweise laut.
„Was? Sind sie etwa verkabelt? Hört jemand mit?” Der Fremde zog eine Pistole.
Jetzt gibt es Spaß, kicherte der Teufel.
„Nein, um Gottes Willen!“ Ariel hob die Hände beschwichtigend nach oben. „Schauen Sie in meine Ohren, da ist nichts und auch sonst nirgends.“ Er drehte sich im Kreis, obwohl ihm unwohl war, der Waffe den Rücken zu kehren. „Was meinen Sie mit Problem?“
„Nun, vorhin hat sich anscheinend einer für Sie ausgegeben.”
„Was?! Sagen Sie nicht, Sie haben die Ware –”
Der Fremde nickte. „Er sah wirklich genauso aus, wie Sie auf dem Kontaktfoto!“
„Woher wissen Sie, dass ich jetzt der Richtige bin?“
„Der kleine Boss hat angerufen, Sie würden verspätet kommen. Da war der andere bereits .“
Ariel lehnte sich an die Wand, sofort bröckelte der Putz ab. Er beobachtete, wie die Brocken auf dem Boden zerschellten. Immer, wenn über ihnen Züge ein- und ausfuhren, vibrierte das Mauerwerk.
Was sollte das alles? „Ich muss den Boss anrufen.“ Als Ariel sein Handy aus der Hosentasche zog, hielt ihn der Andere zurück.
„Ich könnte eventuell etwas Gleichwertiges beschaffen”, meinte der Unbekannte. „Dauert aber bestimmt eine Weile … es sei denn, wir heizen es finanziell ein bisschen an.“
Manchmal bist du echt schwer von Begriff, flüsterte der Teufel.
Ariel holte tief Luft. „Reichen 3000 Euro?“ Er holte fünfzehn Zweihunderterscheine aus dem Geldumschlag.
„Klar!“ Der Fremde wollte das Geld wegnehmen, aber Ariel hielt seine Hand fest. „Ich darf mich auf Diskretion und Schnelligkeit verlassen? Sonst sind wir beide dran!“
„Sicher, du kannst weiter unten warten, da ist es bequemer.“ Er machte eine Geste zur Treppe.
Geh nicht! Hau ab, solange du noch kannst! Ein panischer Engel hatte Ariel noch gefehlt.
Sogleich zischte der Teufel seelenruhig Doch, schau nach, wer da so lustvoll stöhnt.
Unten angekommen machte der Fremde eine Holztür auf, drinnen waren die Wände mit bordeauxfarbenem Stoff bezogen. Ariel folgte zögerlich.
„Lucy? Hier ist jemand, der Zeit überbrücken muss, bisschen Geld hat er auch dabei, haben wir eine Puppe zur Verhaltensforschung für ihn?“
„Was? Ich kann auch allein warten.“
Bist du irre, ein Mädchen ist das Beste jetzt! Du hattest schon ewig keine Brüste mehr in den Händen.
Eine dickliche Frau im Tüllmorgenmantel trat aus einem Raum, der eine Art Küche sein musste, denn es roch nach Kaffee.
„Haste mal wieder einen feinen Pinkel angeschleppt? Lass mich raten, Job bei der Bank, alles superseriös und privat Frauen verprügeln.“
Ariel blieb die Spucke beinahe weg. „Was? Ich muss doch sehr bitten!“
Lucy lachte. „Na gut, was hast du sonst für Fetische?“
Kopfschüttelnd drehte sich Ariel um, nur um gegen den anderen Typen zu laufen. Der hatte schon wieder die Hand an der Waffe. „Beantworte einfach Lucys Frage.“
„Ich mag große Brüste“, presste Ariel hervor.
Nun lachten beide schallend.
„Das ist alles, Bürschchen? Margreeeeeet!“
Weiter hinten trat ein höchstens achtzehnjähriges Mädchen in den Flur.
Lucy zerrte Ariel am Arm bis zu Margret. Ihre hellgrünen Augen ruhten auf ihm.
„Na los! Blas ihm einen oder lass ihn mit deinen Titten spielen, bis Piet zurück ist!“ Lucy schubste Ariel in den offenen Raum. Margret schloss hinter ihm schnell die Tür.
„Hör mal“, begann Ariel, „ich warte lediglich auf diesen Piet, dann bin ich auch schon wieder weg.“ Sein Blick fiel auf den Flatscreen. „Lass uns einfach eine Runde fernsehen!“
Ist jetzt nicht dein Ernst! herrschte ihn der Teufel erfolglos an.
Ariel ignorierte ihn. Er suchte nach der Fernbedienung, fand sie auf dem Nachttisch, neben einer Kokosnuss. Er stutzte. „Ist die Nuss echt?“
Das Mädchen nickte.
„Interessant.“ Er schaltete den Fernseher ein.
„Breaking News: Festnahme eines sogenannten Kuriers, der Unmengen an Rauschgift von Hamburg nach München transportieren sollte. Wie sich herausstellte, ist es der schon länger gesuchte Verbrecher Erich Schmitt, Deckname Elo.“
Eine Sekunde später rief sie: „Der sieht aus wie du!“
Der Teufel schrie sogleich Jargo wollte dich auflaufen lassen!
Sein Gegenpart widersprach Ach was, es gibt bestimmt eine logische Erklärung.
Da trat der kleine Boss auch schon durch die Tür. „Sorry, Kumpel.“
Ariel erhob sich. „Jargo, was wird hier gespielt?“
„Nicht vor dem Girl, komm mit.“ Jargo machte eine Kopfbewegung in Richtung Ausgang, nahe Schießhund Lucy.
„Habe nichts mit dem Mädchen gemacht“, rief Ariel ihr zu.
„Selbst Schuld“, plärrte Lucy hinterher.
Zurück im dunklen Gang atmete Ariel erst mal tief durch. „Ich verstehe nur Bahnhof.“ Passend ließ ein durchfahrender Zug die Wände vibrieren.
Jargo schaute skeptisch nach oben, bevor er sprach. „Dieser Typ, Elo, bat neulich um einen Job bei mir. Sozusagen Hilfe unter Gaunern. Was er aber nicht wusste, ist, dass er bei seinen Streifzügen, wie er seine Frauenfang-Ausflüge nennt, fatalerweise eine meiner Cousinen erwischt hatte. Sie hat es nicht überlebt.“
„Scheiße.“
„Ja … also gab ich ihm den Job, der eigentlich für dich vorgesehen war. Allerdings sagte ich ihm, er solle sich umstylen lassen, sicherheitshalber. Das hat dann ein Hairstylist nach deinem Foto erledigt.“
„Er hat also den ursprünglichen Auftraggeber Lehm getroffen?“
Jargo nickte. „Lehm ist ebenfalls ein Strohmann. Klar, es hätte schiefgehen können. Aber ich musste es versuchen. Auch, wenn Banditen normal zusammenhalten, bei Mord an einem Familienmitglied hört es einfach auf. Wir sind Ehrenmänner! Natürlich musste alles etwas in die Länge gezogen werden, damit der falsche Kurier vor dir hier eintraf und den Stoff mitnahm. Der Rest war ein Kinderspiel. Geheimer Hinweis bei den Bullen, die schnappen ihn, gut.“
Ariel schauderte, wenn er daran dachte, was hätte alles mit ihm passieren können „Wieso hat man Elo nicht einfach beseitigt? Warum dieser Aufwand?“
„Das wäre zu human. Im Knast wird er seine gerechte Strafe durch Mithäftlinge bekommen.“
„Hm.“ Ariel wollte manchmal gar nicht so viel von Jargos Geschäften wissen. „Und wenn der plaudert?“
Jargo nahm einen tiefen Zug von seiner Zigarette. „Keiner der Leute, mit denen er zu tun hatte, existiert. Weder Lehm noch Piet.“
„Und die Frauen?“
„Familienmitglieder.“
„Ich habe mich schon über die merkwürdige Vorgehensweise hier in den Bahnhofkatakomben gewundert. Eigentlich hätte ich dich sofort anrufen und informieren müssen.“
„Genaugenommen schon vorher. Das erste Mal, weil Lehm ein anderer war und das zweite Mal, als du das Schmiergeld von H bekommen hast.“
Ariel blickte zu Boden. „Entschuldigung.“ Schnell kramte er das Restgeld hervor. „Hier.“
„Lass mal. Du bist noch neu! Und sehr loyal, wie es aussieht. Siehe es als eine Art Entschädigung für das Risiko.“
Jargo nahm einen Briefumschlag aus der Gesäßtasche seiner Jeans. „Hier ist dein nächster Auftrag. Allerdings könntest du dir vorher den Bart rasieren.
Diesen Job machst du doch nicht wirklich weiter?
Wieso sollte er nicht?
Da fragst du noch?
Ariel beschloss, die zischenden Wesen auf der Schulter für eine Weile zu ignorieren und nickte.