Diese Story ist auch als Hörgeschichte erschienen.
Da steht sie nun. Eingefroren an Ort und Stelle. Aus den schockgeweiteten Augen rollt eine Träne, denn geblinzelt hat sie schon länger nicht mehr. Was sich vor ihr abspielte, entsprach exakt ihren Vorstellungen, ja, es war geradezu eine perfekte Wiedergabe von dem, was sie erwartet hatte. Nur war es eben Realität. Kreischende, chaotische und überwältigend echte Realität.
„…nna“, hörte sie jemanden aus dem Dickicht der lärmerfüllten Überforderung rufen. „Susanna?“ Die Angesprochene nickte langsam, konnte sich dabei nicht vom Schauspiel abwenden, das sie überrollte wie eine Tsunamiwelle. Sie klinkte sich endgültig aus und sie fühlte sich, als wäre sie es, die im Fruchtwasser steckte. Jeder Klang wurde gedämpft, drang kaum an ihren Verstand. Schweiß vermischte sich mit hellrotem Schleim, Dreadlocks wanden sich und ein dunkles Brummen schwappte heran, eine Melodie, vielleicht ein Gebet. Das Paternoster – die Panik schien nicht alleine in ihr zu keimen, das beruhigte sie.
„…anna, Hergott!“ Von der Ärztin durchgeschüttelt, purzelte Susanna aus ihrer Schockstarre.
„Ja?“, stammelte sie verwirrt, strich sich automatisch eine ihrer Locken hinters Ohr. „Bitte?“
„Geht es Ihnen gut?“ Wieder setze sie zum Nicken an, schüttelte dann allerdings heftig den Kopf. Da folgte ein Riss, ein bestialischer Schrei, roh-rosa Schultern passierten den Kanal. Sie übergab sich neben das blutig vollgekotete Geburtsbecken und verlor anschließend das Bewusstsein.
„Das ist mir wirklich sehr peinlich“, murmelte sie abermals. „Ehrlich, ich … Ich … Das wollte ich nicht!“ Selten war sie sich so klein vorgekommen. Die Ausbildnerin hatte sie in zur Besprechung in den leeren Kreißsaal gebeten, in welchem sie gestern die größte Schmach ihrer noch jungen Karriere erlebt hatte.
„Sagen Sie mir, Susanna“, begann ihre Vorgesetzte, faltete ihre Hände vor dem Bauch und ein angedeutetes Grinsen huschte über ihr Gesicht. „Was gefällt Ihnen am Beruf? Was hat Sie darauf gebracht, Hebamme zu werden?“ Diese Frage kannte sie, also zögerte sie keine zwei Sekunden, ehe sie ihre übliche Rede zum Besten gab. „Ich möchte Frauen helfen, das scherzhafteste Erlebnis überhaupt durchzustehen, damit sie sich später an den großartigen Moment erinnern, der die Geburt ist.“ Erleichtert atmete sie aus, einigermaßen zufrieden mit sich.
„Blödsinn“, stellte die andere beiläufig fest, während ihr Grinsen breiter und ihre Haltung gerader wurden. Erst jetzt bemerkte Susanna, dass ihre Ausbildnerin gutaussehend war, sie sah aus wie ein Mannequin im weißen Kittel – hübsche Menschen machten ihr Angst. „Ich will keine Plattitüden und Vorstellungsgesprächs-Rhetorik. Ich will eine ehrliche Antwort und nachdem wir Ihren Mageninhalt aufwischen konnten, denke ich, ich habe Offenheit verdient.“ Die freundliche Mine verschwand und für einen Augenblick sah sich Susanna mit ihrem größten Alptraum konfrontiert.
„Ich …“, stammelte sie nun komplett verschüchtert. „Ich weiß es nicht.“
„Aha!“ Susanna zuckte ob dem trockenen Ausruf heftig zusammen und wich einen Schritt zurück, sodass sie gegen einen Instrumentenwagen stieß. „Daher das große Kotzen.“
Die werdende Mutter begrüßte sie zwischen zwei Wehen und lächelte, ihre Nervosität bemerkend, aufmunternd zu. „Na, wir packen das“, verkündete sie gutmütig und verriet der angehenden Hebamme damit zwei Dinge. Zum einen war die auf dem Beckenrand sitzende Frau eine wundervoll geduldige Mutter, zum anderen hatte Susanna allen Grund, sich zu schämen – sie sollte diejenige sein, die sich statt der Gebärenden um eine ruhige Atmosphäre kümmerte. „Keine Sorge, Liebes, ich habe das schon viermal gemacht. Das Kind flutscht da durch als wäre es ein Cadillac im Tunnel“, lachte die knapp vierzigjährige herzhaft, klopfte Susanna auf die Schulter und brüllte sogleich markerschütternd: „Ich bin übrigens Mareeeeeeiii-ke!“ Der Abstand der Wehen verriet, es ginge bald los und je mehr sich der Muttermund öffnete, desto heftiger pochte Susannas Herz.
Ihre Gedanken rasten in Höchstgeschwindigkeit, pendelten zwischen ihrem Berufswunsch und Versagensangst hin und her, als die Ärztin gelassen meinte: „Ah, sehr schön. Susanna, übernimmst du bitte?“ Eine unsichtbare Glocke senkte sich über die junge Frau. Mechanisch trat sie zum unteren Rand der Geburtswanne, um Mareike beim Einsteigen behilflich zu sein.
„Danke dir, Liebeeee-s!“ Es war soweit, das Kind streckte bereits die Krone seines kleinen Köpfchens heraus, präsentierte der Welt seine spärlich pechschwarze Haarpracht. Hohle Töne waberten durch die Luft, prallten von den gekachelten Wänden ab und reflektierten in Susannas Ohren zu einem endlosen Echo. Sie verlor erneut die Nerven, sah regelrecht dabei zu, wie sie in sich zusammensackte, den Schädel am Beckenrand anschlug und schlussendlich auf dem Boden landete. Das letzte, das sie wahrnahm, ehe sie in Ohnmacht fiel, war ein eklig säuerlicher Geschmack im Mund.
Die Ausbildnerin hatte eine Weile keinen Mucks von sich gegeben, schaute Susanna bloß ratlos an, verlagerte zwischendurch ihr Gewicht von einem auf das andere Bein. Schlussendlich seufzte sie tief und stellte fest: „Ich befürchte, Sie sind noch nicht bereit für die Praxis.“
So gerne sie etwas anderes behauptet hätte, Susanna konnte der anderen nur zustimmen. „Es ist mir absolut ernst damit, Hebamme zu werden“, versuchte sie es, scheiterte jedoch kläglich. Weder ihre Vorgesetzte noch sie selbst kauften ihr diese Willensbezeugung ab. „Glaube ich.“
„Der Job ist hart. Verstehen Sie mich nicht falsch, Susanna, er ist fabelhaft – vielseitig, aufregend und vor allem außerordentlich wichtig – nun eben auch verdammt hart.“ Solch eine Erklärung war überflüssig, das war Susanna schon vor dem ersten Ausbildungstag vollkommen klar gewesen. Den Blicken der anderen ausweichend, fixierte sie das gerahmte Poster, welches die Wand gegenüber der Geburtswanne zierte – es zeigte einen roten Fingerhut, daneben ein kleines Maikäferchen und sollte wohl trotz der Giftigkeit der Pflanze irgendwie friedlich wirken.
„Haben Sie es herausgefunden?“, verlange sie nun zu wissen. „Weshalb sie Hebamme sein möchten?“
„Ja“, gab Susanna ohne Verzögerung zurück. „Um Hebamme zu sein, braucht man Stärke und ich will eine starke Person sein, will mich selbst so sehen.“ Ein Häutchen an ihrem Zeigefinger abbeißend wandte sie sich direkt an ihre Chefin, war endlich bereit, sich dem Unvermeidbaren zu stellen. „Aber ich glaube, ich bin auf eine andere Weise stark. Ich möchte die Ausbildung abbrechen.“