Diese Story ist auch als Hörgeschichte erschienen.
Dies ist der 5. Teil der Fortsetzungsgeschichte „107 Minuten“.
Aufgewühlt und wütend stapfte Remo die Treppe des Wohnblocks hinunter, in welchem er zusammen mit Lea lebte und versuchte angestrengt sich etwas zu beruhigen. Es gab Momente, in denen er nicht mehr das Gefühl hatte hier noch erwünscht zu sein und er war sich auch nicht mehr sicher, was ihn noch bei Lea hielt. „Einfach unmöglich“, murmelte er in einer Mischung aus Trauer und Wut und er wusste, dass sie diese Situation nur würden klären können, wenn sie beide wieder einigermaßen bei Verstand waren. Er war im ersten Stock angelangt und atmete tief durch, während er mechanisch den Bogen zur nächsten Treppe schritt und diese mit drei großen Schritten überwand. Remo fragte sich, ob er gerade etwas falsch gemacht hatte. Er verstand Leas Gefühle nicht und wusste erst recht nicht wie er damit hätte umgehen sollen – er war schlicht und ergreifend überfordert. Auch wenn der siebenundzwanzigjährige Polymechaniker mit seinem Leben eigentlich zufrieden war, in seiner Beziehung lief es gerade alles andere als gut, ständig hatten er und seine Freundin Streit, einer schlimmer als der andere. Er ballte die Faust, schüttelte wütend den Kopf so, dass seine braunen, lockigen Haare tanzten und murmelte in seinen Dreitagebart: „Die Frau treibt mich noch in den Wahnsinn! Eines Tages …“ Er unterbrach seinen Monolog, als er bei der schweren Glastür angelangt war, welche eigentlich vor Jahren schon mit einer sicheren Eingangstür hätte ersetzt werden sollen und überlegte, wohin er jetzt gehen sollte. Umkehren und wieder nach oben gehen wollte er nicht, dazu war er noch zu gereizt und er konnte sich denken, dass seine ach so emotionale Freundin ihm dann erst recht eine riesige Szene machen würde. Doch alleine wollte er auch nicht sein, nicht jetzt, nicht in dieser Verfassung. Er warf einen Blick auf seine schlichte Armbanduhr, die viertel nach Acht anzeigte; der Kiosk seiner Mutter wäre noch geöffnet und nur ein paar Minuten entfernt und er könnte sich mit ihr unterhalten und so hoffentlich seine Wut verfliegen lassen. Auch wenn Patrizia seine Freundin gar nicht ausstehen konnte, so hatte er doch die Hoffnung, dass die ehrliche und direkte Art seiner Mutter ihn etwas beruhigen würde. Entschlossen trat er auf die vom Regenguss noch nasse Straße, vergrub seine Hände in dem Hosentaschen und marschierte los.
Nach kurzem Fußmarsch langte Remo bei dem fünfstöckigen Haus mit der grauen, von abblätterndem Putz verunstalteten, Fassade an, in dessen Erdgeschoß Patrizias Geschäft lag. Auf dem alten Schild, dessen Neonbeleuchtung flackerte, stand in grünen Lettern: „Kiosk & Treffpunkt“ – Remo hätte den Laden selbst nicht besser beschreiben können. Obwohl in dem für einen Kiosk sehr geräumigen Lokal alles beinahe antik wirkte, war es immer sauber geputzt und schien von Leben erfüllt; alle möglichen Gestalten aus dem ständig belebten Quartier saßen an den Bistrotischen und tranken ihren Kaffee oder ihr Bier. Er hatte den Eindruck, dass Patrizia, die irgendwie immer auf dem Laufenden war und jede Einzelheit über ihre Stammgäste kannte, tatsächlich so etwas wie die heimliche Quartiersmutter dieser Gegend war. Remo hatte sich mittlerweile etwas beruhigt und ging bedächtig die zwei Stufen hoch, bis er schließlich eintrat. Für einmal war der Kiosk tatsächlich bis auf seine Mutter leer, die hinter ihrer Theke saß und in einer Zeitschrift blätterte. „Hey, Ma“, sagte er gleich nachdem die Glocke über der Tür gebimmelt und sie aufgeblickt hatte. „Hast du etwas Zeit?“
„Für dich doch immer“, entgegnete sie warm und erhob sich. Auch wenn die stämmige Frau von vielen als rabiat bezeichnet wurde, so erkannte sie immer sofort, wenn etwas nicht stimmte. „Was ist denn geschehen?“, fragte sie besorgt. „Ich hatte wieder Streit mit Lea“, erklärte Remo, inzwischen mehr traurig denn wütend, währendem er sich an die Theke lehnte. „Die Sache wächst mir langsam über den Kopf.“
„Dieses Mädchen macht dir nur Probleme“, sagte seine Mutter entschieden und ging zur Kaffeemaschine, um ihm einen Espresso zu machen. „Du weißt ja, was ich von der halte.“
„Aber sie ist mir wichtig“, entgegnete er mit einem Unterton der Verzweiflung. „Was soll ich denn nur machen?“
„Junge“, begann sie, während sie den Becher vor ihn hinstellte. „Ich bin mir sicher, dass du das Richtige tun wirst. Und da draußen findest du sicher eine ganze Menge netter Frauen, die dich gerne kennenlernen würden und nicht solche unmögliche Gefühlsdusel sind.“
„Weißt du, ich…“, begann er und erklärte nach einer kurzen Pause: „Ich habe auch Fehler gemacht …“
Es war gegen neun, als Remo den Kiosk verließ und auf die Straße trat, auf der es unangenehm nach angekokelter Bratwurst roch. Ein vorbeidonnernder und hoffnungslos überfüllter Linienbus spritze etwas Wasser aus einer Pfütze auf seine Jeans und er stieß einen unterdrückten Fluch aus, bevor er grummelte: „Auf dieser Straße rumzulaufen ist der reine Selbstmord.“ Er war zwar noch immer entnervt, doch langsam aber sicher begann das Gefühl sich zu legen; nach ein paar Runden um den Block und vielleicht noch einem Bier im nahen Pub hätte sich sein Gemüt genügend abgekühlt, sodass er wieder würde nach Hause gehen können. Und falls Lea bis dann noch immer sauer auf ihn wäre, würde er sicher bei seinem Kumpel Diego übernachten können, der auch nicht allzu weit entfernt wohnte. Abwesend kramte er eine Schachtel Zigaretten aus seiner Jackentasche und zündete sich eine an. Nach dem dritten gescheiterten Versuch, mit der lästigen Angewohnheit ein- für allemal aufzuhören, hatte er die Waffen gestreckt und sich damit abgefunden, irgendwann frühzeitig an Lungenkrebs zu sterben. Und so viel wie er rauchte wenn er sich aufregte, würde das eher früher als später der Fall sein, zumindest wenn sich nicht bald in seiner Beziehung etwas zum Besseren wandte und seine Nerven etwas geschont werden würden. Ein weiterer lauter Bus, diesmal aus der Gegenrichtung, riss Remo aus seinen Gedanken und er sagte halblaut zu sich selbst: „Dieser Verkehrslärm ist wirklich grauenhaft!“ Er wusste, dass ihn nur wegen seiner üblen Laune überreagierte, doch das musste nicht sein, denn er hatte seine handlichen Ohrhörer dabei. Umständlich fischte er das verknotete Bündel zusammen mit dem zerkratzen HTC-Handy aus der anderen Hosentasche und entwirrte es in Begleitung einiger weiterer unflätiger Worte. Schließlich streckte er sich, nicht ganz ohne Stolz auf sein mit den widerspenstigen Kabeln bewiesenes Fingergeschick, die Hörer ins Ohr und suchte auf seinem Mobiltelefon nach einem Album der „Red Hot Chilli Peppers“, genau die richtige Musik, um sich nach einem Streit zu beruhigen. Als endlich der Song „By the Way“, erklang, drehte er die Lautstärke bis zum Anschlag auf und schritt über den langsam trocknenden Bürgersteig weiter.
Als Remo bei der Kreuzung ankam, fiel ihm ein Streifenwagen auf, der mit eingeschaltetem Warnblinker vor dem schäbigen Block schräg gegenüber seiner Wohnung stand. Neugierig schaute er genauer auf die Szene, doch er konnte nichts weiter erkennen, nur ein offenbar hastig schräg auf dem Randstein geparkter Polizeiwagen. „Vielleicht haben sie ja endlich die Dealer hochgenommen, die da immer in der Einfahrt von dem Haus mit der schlecht aufgepinselten Nummer 100 ihren Stoff vertickten“, dachte sich Remo mit einem schadenfreudigem Grinsen, denn er mochte es nicht besonders, jeden Abend danach gefragt zu werden, ob der denn wirklich keinen „Zucker“ brauche. Er konnte an seiner Hand, die er auf den Summer für Sehbehinderte an der Ampel gelegt hatte, eine Vibration fühlen und wandte sich um, um über die Straße zu gehen. Mittlerweile war seine Playlist bei „Can’t Stop“ angelangt und das Hämmern der Drums gab den Takt zu seinen Schritten vor. Noch einmal warf er einen Blick auf den Streifenwagen, der ganz einsam dastand und nicht von Polizei-Kastenwagen umgeben war, die sonst immer bei Razzien daneben standen. „Komische Sache“, dachte er sich und sinneirte, ob er die Lautstärke nicht doch etwas zurückdrehen sollte weil er die Straße überqueren wollte. Doch dazu hatte er keine Zeit mehr gehabt, denn der heranrasende Krankenwagen erfasste ihn mit einem derart harten Schlag, dass Remo weggeschleudert wurde und auf dem Asphalt liegenblieb. „Lea“, röchelte er, bevor sich seine Kehle mit Blut füllte, der metallische Geschmack im Mund war das Letzte, das er wahrnahm, kurz bevor die Kreuzung für Remo endgültig in Dunkelheit versank.