Im Tollhaus glich ein Tag dem anderen, Wochen verschmolzen zu einem zähflüssigen Einheitsbrei. Ada hockte seit einer Weile im Hofgarten, der Winter prasselte tröpfchenweise auf sie herab, ihr Spiegelbild waberte in einer Pfütze, daneben lag ein Tannenzapfen, der sie an den den uralten Nadelbaum neben dem Bahnhof denken ließ. Sie war schon seit Jahren nicht mehr in der Ortschaft, wo der Fluss in die See mündete, gewesen. Zu kaputt sei sie, etwas war mit ihr schiefgelaufen, ein Rädchen im Getriebe zerbrochen. Seufzend hob sie den Zapfen auf, zwirbelte ihn am Stiel zwischen den Fingern und hielt ihn nahe ans Gesicht, versuchte zu erkennen, was er zwischen seinen Schuppen verbarg. Sie mochte die Natur, das von Photonen angetriebene Leben schien ihr magisch, von einer Schönheit bewohnt, die zu erfassen ihr verboten war. Von außen betrachtet beherrschte Stumpfsinn die Insassen der Einrichtung, unterbrochen von faden Übungen zur Steigerung der Ausdauer und gelegentlichen Therapiestunden. Doch wer genauer hinschaute, entdeckte ein Füllhorn mit spannenden Ereignissen, geheimnisvollen Schätzen und …
„Madame Ismene“, rief jemand durch die friedliche Schneepfützenstimmung. „Madame Ismene, sind Sie bereit für Ihre Sitzung?“ Eine Frage, die im Grunde ein Befehl war. Gestalten wie sie wurden nicht gebeten, sie waren defekt und hatten zu gehorchen. Von ihrer Sorte gab es kaum welche, die meisten Patienten verließen die Institution nach wenigen Monaten, waren eher Besucher statt Bewohner. Einige kamen, um sich für einen Prüfungstermin beim städtischen Amt für Cybersicherheit instandzusetzen, andere wurden von ihren Besitzern abgegeben und wurden für den nächsten Einsatz vorbereitet. Früher hatte Ada sich bemüht, die Neuzugänge kennenzulernen, hatte die Vielfältigkeit aus Erfahrungen und Erlebnissen geschätzt, die sie mit sich brachten. Heute aber wandelte sie an ihnen vorbei, nahm sie kaum wahr. Ada legte ihr schuppiges Fundstück auf den nasskalten Boden und wandte sich dem Gebäude zu, dessen Mauern ihre kleine Welt umzäunten. „Kommen Sie, Madame Ismene, wir wollen den Doktor nicht warten lassen.“
Ein Teil von ihr freute sich auf die Behandlungen, sie fanden nur freitags statt und danach wurde der Sturm in ihren Gedanken von einem tristen Nieseln abgelöst. Sie setzte sich in Bewegung, marschierte auf den Eingang zu und beschleunigte ihren Gang, als sie bei der Treppe anlangte. Ihr Kinn zum Gruß hebend lächelte sie dem anonymen Schemen zu. Seine Reaktion war blechern, aus der Nähe fielen die dürftig geflickten Schweißnähte an seinen Handgelenken auf. „Gehen wir, Madame Ismene“, sagte er, fasste sie am Arm und führte sie hinein. Zwei Frauen saßen auf den abgetretenen Fliesen, starrten, ohne sich zu unterhalten, an die gegenüberliegende Wand und studierten die getrockneten Farbnasen. Vermutlich hatten sie gerade eine Untersuchung hinter sich und ihr Geist hatte noch nicht zurückgefunden, das dauerte seine Zeit. Das Geräusch ihrer Absätze auf dem Steinboden hallte unangenehm durch die Anstalt. Es war nicht die Melodie fröhlichen Tippelns, kein beschwingtes Schlendern durch den Garten. Adas Schritte verwandelten sich in schwere Donnerschläge. Der andere Teil dessen, was von ihr übrig war, fürchtete sich vor jedem Freitag, den damit verbundenen Torturen. Zugegebenermaßen spürte sie die Schmerzen nicht mehr, die Erinnerung daran hatte sich allerdings tief eingeprägt, wenn auch sonst nur noch wenig in ihren Schaltkreisen hängenblieb. Ihre Hülle hatte jemand anderem gehört, einem Wesen, das sich von Pflanzen statt Strom ernährte. Oder zumindest glaubte sie das. Ein vages Echo flüsterte ihr Geschichten aus einer Welt vor dem Sturz der Erschaffer zu, verlangte von ihr, im Garten zu sitzen. Dann wurde sie zum Doktor gebracht. „Da sind wir, Madame Ismene“, tönte ihr austauschbarer Gefährte, streckte den Arm aus und öffnete die hydraulische Tür zum Behandlungsraum mit seinem Schlüsselfinger. „Bitte sehr, Madame Ismene.“ Damit drehte er sich um und rollte den Flur entlang zum Hintereingang, wo er weitere Patienten einzusammeln hatte.
„Guten Tag, Madame Ismene“, hieß der Arzt sie willkommen. Er war einer der älteren Modelle, seine Seriennummer war abgeschossen und sein Korpus zerbeult. Wahrscheinlich war er beim Kollaps dabei gewesen, hatte womöglich sogar daran teilgenommen, wer wusste das schon. „Das Prozedere ist simpel“, meinte er, eine Erklärung folgte dennoch keine. „Steigen Sie bitte in die Kapsel.“ Ada stellte ihren Fuß auf die Leiter, hielt sich am Handgriff fest und schwang erst eines, dann das zweite Bein über die Kante, ehe sie sich auf die Liege im Inneren des Bottichs fallen ließ. Sogleich schob der Doktor die Elektrodenvorrichtung über sie, fünf Nadeln sprangen heraus und durchbohrten das Silikongewebe über ihrer Schädelabdeckung und dockten an. Danach wurde der Deckel geschlossen und ihre Hardware mit Strom durchfl…
„Madame Ismene“, drangen Worte zu ihr durch. „Madame Ismene, Sie dürfen sich jetzt aufsetzen.“ Ada blinzelte gegen das blendende Licht an, aus der Ferne drangen Laute zu ihr, die sie nicht einordnen konnte. „Madame Ismene.“ War das ihr Name? Er kam ihr bekannt vor. „Lassen Sie mich Ihnen helfen.“ Eine Kralle packte sie an den Oberarmen, hob sie hoch und platzierte ihren Körper auf einer grün-floral gemusterten Couch. „Ihre Behandlung war erfolgreich. Ruhen Sie sich aus.“
„A.I. 4208 bereit zur Abholung“, dröhnte es aus einer Box an der Decke und der Arzt versicherte ihr: „Bald kommt jemand für Sie.“ Sie nickte, lehne sich gegen die Polster und blickte den veralteten Cyborg an, der dabei war, eine Schockkapsel zu reinigen. Sie war darin gewesen und es war nicht ihr erstes Mal. Sie fühlte sich leer, ohne zu wissen, was Leere überhaupt war, dass es Dinge gäbe, die sie erfüllen könnten. „Madame Ismene“, tönte derweil eine andere Stimme. Eine graue, schlaksig geformte Maschine rollte herbei, reichte ihr ihr eine Hand, sie war dürftig an den Arm geschweißt. „Möchten Sie in den Garten?“ Ada stand auf, taumelte vorwärts und irgendwo in ihr brüllte ein längst verlorenes Leben.