Diese Story ist auch als Hörgeschichte erschienen.
Die alte Bahnhofsuhr, die seit Jahrzehnten hinter dem Tresen hing und deren gusseiserne Schnörkel noch nie einen Putzlappen gesehen hatten, zeigte dreizehn Minuten nach sechs an. Christoph Hugentobler, dessen Name in großen Lettern das Schild über dem Eingang zierte, pickte abwesend ein gelbes Gummibärchen aus dem Einmachglas und kaute geräuschvoll darauf herum. Er hatte seiner Frau gesagt, dass er die Naschereien für die Kinder aufgestellt hatte, doch in Wahrheit wollte er sich seine Tage damit etwas versüßen, währendem er auf Kundschaft wartete oder an einem alten Fernsehgerät herumwerkelte. Das widerspenstige Gummitierchen blieb unter seiner Zahnprothese hängen, also schmatze er einige Male laut und kommentierte das unangenehme Geräusch sofort mit einem entnervten Grunzen; irgendwann würde er einfach zahnlos durch die Welt laufen, so sehr ärgerte er sich über die Macken seines Zahnersatzes.
Als das Bärchen seinen Widerstand endlich aufgegeben hatte, schloss Christoph Hugentobler das Einmachglas und machte einige Schritte über die knarrenden Dielen und sah sich in seinem vollgestellten Laden um. Heute war wieder kein Kunde aufgetaucht, wahrscheinlich weil er ausschließlich veraltete Ware anbot. Heutzutage ließ sowieso niemand mehr seinen Fernseher reparieren, stattdessen holte man sich lieber gleich ein neues Modell zum Billigpreis aus dem Discounter. Doch ihm machte das eigentlich nichts aus, denn Christoph Hugentobler war schon lange nicht mehr auf den Umsatz seines Fernsehreparaturgeschäfts angewiesen, war er doch schon seit beinahe fünfzehn Jahren pensioniert. Manchmal fragte er sich, warum er noch immer jeden Tag in der Früh aufstand und mit seinem Gehstock die lange Treppe von der Wohnung in den Laden stapfte, nur um dann vergebens auf Kunden zu warten und an antiquierten Apparaten herumzubasteln, die ohnehin niemand kaufen würde. Doch bis jetzt hatte ihn noch immer die Langeweile gepackt, wenn er das Geschäft nicht pünktlich zum Tagesbeginn aufgemacht hatte und obschon er seine gute Elise noch immer liebte wie am Tag ihrer Hochzeit, konnte er nicht den ganzen Tag in ihrer Gesellschaft verbringen – und war sich ziemlich sicher, dass es ihr damit nicht anders ging.
Nachdem die kleine Ladenglocke hell klingelte, wehte etwas Herbstlaub zur Tür hinein und tanzte kurz auf dem Boden. Ohne zum Eingang zu blicken, schlurfte Christoph Hugentobler wieder zurück hinter den Tresen und wischte sich hastig mit seinem Stofftaschentuch über die Nase, schließlich wollte er seinen ersten Kunden in dieser Woche ordentlich und nicht mit einem Popel im Gesicht willkommen heißen. „Guten Abend, werte Frau“, flötete er mit dem Charme der fünfziger Jahre und legte seine von Arthritis geplagten Hände auf die Ablagefläche.
Die Angesprochene nickte zum Gruß und lächelte ihn überaus freundlich an, bevor sie sich behutsam die ledernen Handschuhe von den Fingern zupfte und diese in ihre Manteltasche steckte. Sie schien nicht von hier zu kommen, dachte sich Christoph Hugentobler, als er die adrette Kleidung der unerwarteten Kundin musterte. Unter ihrem dicken Wollmantel war ein hellgrauer Kaschmirpullover zu erkennen und der Saum eines dunklen Bleistiftrocks lugte darunter hervor. Alles an ihr, vom edlen Paschminaschal bis zu den langen Beinen, die in blickdichte Stumpfhosen gehüllt in unpraktischen Stöckelschuhen steckten, schrie nach Stadt und deutete darauf hin, dass sie sich die garstige Kälte des Spätherbst auf dem Lande nicht gewohnt war.
„Wie darf ich Ihnen behilflich sein?“, fragte er schlussendlich und strich sich fahrig das spärliche Haar glatt, währendem sie ihren Schal lockerte und den ersten Knopf ihres Mantels öffnete. „Ach“, sagte sie, räusperte sich dann und sah sich etwas verloren in seinem Laden um. Christoph Hugentobler begriff sofort, um was es ging und grinste frech, bevor er ihr einen leichten Einstieg für ihr Geständnis schenkte: „Es ist bitterkalt geworden, denken Sie nicht auch?“
„Oh ja!“, erwiderte sie sogleich und schaute etwas beschämt auf den durchhängenden Dielenboden, bevor die etwa Fünfzigjährige leise fortfuhr: „Ich wollte mich eigentlich nur kurz etwas aufwärmen und außer Ihnen hat kein Geschäft oder Restaurant geöffnet.“
Nachdem Christoph Hugentobler die Entschuldigung der Dame mit einer ausladenden Handbewegung abgewiegelt hatte und sie beide darüber gelacht hatten, wie schwer es ist in diesem abgelegenen Dorf nach fünf Uhr abends Leben auf der Straße anzutreffen, hatte er ihr einen heißen Kakao angeboten. Nun saßen sie hinter dem Tresen auf der kleinen Holzbank, die sein Schwager ihm zur Pensionierung geschenkt hatte, wohl in dem Glauben, er würde sie auf die Veranda stellen, um dort Zeitung zu lesen.
„Herr Hugentobler“, begann sie und er konnte sehen, wie sie ihre hellen Augen von ihm abwandte, ihr bislang heiterer Gesichtsausdruck einem ernsten wich und sie scheu, ja beinahe nervös auf ihren Händen herumknetete. „Haben Sie denn Kinder?“, wollte sie dann wissen.
Etwas verwirrt ob der persönlichen Frage und dem abrupten Stimmungswechsel der Fremden, blieb er erst stumm, stand dann ächzend auf und ging zum Tresen, wo er eine Mandarine aus der obersten Schublade klaubte. Seine Falten verzogen sich zu einem Lächeln, als er sie ihr reichte und sie heiser darum bat, die Frucht für ihn zu schälen. „Meine Hände sind nicht mehr so gut“, erklärte er und drehte ihr dann den Rücken zu, um sich an die Theke zu lehnen. Eine lange Weile starrte er in die hinterste Ecke seines Ladens, dort wo unter all dem Krimskrams eine Holztruhe stand, die seinen wertvollsten Schatz beherbergte. Er brauchte das vergilbte Foto nicht zu sehen, um sich an jedes Detail zu erinnern. Es zeigte ein kleines Mädchen, vielleicht sechs oder sieben Jahre alt, in schwarz-weiß. Christoph Hugentobler vermied es, daran zu denken und an manchen Tagen war er sich nicht sicher, ob es das Foto und das Mädchen überhaupt gab, so dass er nachsehen musste, um sicherzugehen, dass mit seinem Oberstübchen noch alles in Ordnung war und das Foto nicht nur ein Hirngespinst war.
Er konnte das dumpfe Klacken ihrer Absätze hören, als sie die wenigen Schritte zu ihm ging, um ihm mit besorgtem Blick zaghaft die Mandarine zu geben. „Es tut mir leid, ich hätte nicht fragen sollen“, flüsterte sie traurig und griff dann nach ihrem Mantel, den sie vorhin über die Theke gelegt hatte. „Ich sollte wohl gehen. Vielen lieben Dank für Ihre Gastfreundschaft, Herr Hugentobler.“
Gerade, als sie ihren Schal zurechtgerückt hatte und den Türknopf drehen wollte, fuhr Christoph Hugentobler mit einer Geschwindigkeit herum, die man ihm nicht zugetraut hätte. „Ich habe eine Tochter“, rief er ihr nach und kämpfte mit dem Kloß in seinem Hals, der noch widerspenstiger zu sein schien, als das Gummibärchen von vorher. „Aber ich habe sie nie kennengelernt“, fügte er dann mit erstickter Stimme an und wartete darauf, dass sie sich mit offenem Mund zu ihm umdrehte und ihn fassungslos anstarrte. So hatten bisher alle reagiert, wenn sie davon erfahren hatten, deshalb hatte Christoph Hugentobler seit Ewigkeiten niemandem mehr davon erzählt und seine unbekannte Tochter, genauso wie das einzige Foto von ihr, wie ein unschätzbar wertvolles Geheimnis behandelt.
Doch die fremde Frau rührte sich nicht und blieb kurz wie eingefroren stehen, ehe sie sich ihm zuwandte und mit glasigen Augen so leise, dass er es kaum noch hören konnte, sagte: „Ich weiß.“
Schön, wie das Herbstlaub auf dem Boden tanzt :-)