Grund zum Lächeln

Warnung: Diese Kurzgeschichte greift ein Thema auf, das für einige Leser schwer zu verkraften sein könnte. Mehr zu unseren Warnungen sowie wann und weshalb wir sie anwenden, erfahrt ihr in unseren FAQ.

Zaghaft taste ich mich auf dem Schotter voran. Mich begleitet die unbehagliche Vorstellung, ich könnte mit dem losen Gestein in die Tiefe stürzen, im Tal zerschellen. Wieso? Wieso fürchtet sich mein Herz vor dem, was es begehrt? Weil das Zerspringen an Felswänden nicht meiner Vision entspricht? Es ist viertel nach sechs Uhr an einem Samstagmorgen. Einige Vögel singen, aus der Ferne dringt Wasserfalldonnern an meine Ohren, es rauscht durch meine Adern und versickert irgendwo in den Ecken meines Verstandes. Seit Montag ist alles vorbereitet, besiegelt. Geplant war mein Vorhaben schon vor Jahren, Jahrzehnten vielleicht, wer weiß. Wahrscheinlich wird man sich eine Weile darüber unterhalten, bestimmt werden Vermutungen geäußert, Spekulationen gemunkelt. Schlussendlich werden die Leute den heutigen Tag vergessen. Der Berghang hoch über meiner Heimat wird mit Tinte in meine Geschichte geschrieben und ich, ja, ich werde ein flüchtiger Teil der seinen werden.
Vor einiger Zeit habe ich gelesen, intelligente Menschen hätten durchschnittlich weniger Freunde als die von Dummheit geplagten. Sollte das stimmen, gibt es einen weiteren Grund, aufrichtig dankbar für den mir angeborenen Wissenshunger zu sein. Ein reich bestücktes Bouquet aus verzweigt-vernetzten Freundschaften wäre mir spätestens heute eher Dorn als Rose.
„Selig sind die geistig Armen“, wird behauptet und in meinen düstersten Momenten war ich bewogen, dem Volksmund Glauben zu schenken. Denn was ist Intelligenz anderes als die Fähigkeit, all die Lücken zwischen den Erklärungen zu erfassen? Je mehr ich weiß, desto klarer wird mein Bild von alledem, das sich meinem Intellekt entzieht, womöglich auf ewig. Deswegen jagen die meisten lieber Erlebnisse und Eindrücke statt Wissen. Erfahrungen gehen schneller ins Blut als kühle Fakten, unserer Entwicklungsgeschichte sei’s gedankt. Selbst ich kann das an diesem Morgen bestätigen, denn der Schotter fühlt sich nicht nur wie unverfestigte, geologisch junge Ablagerungskörper an, sondern wie Gefahr. Gleichwohl sind die finsteren Flüche rasch vergangen und ich war stets froh um meine Gelüste. Sehen, einfach fühlen macht mir selten Appetit, doch Wissen, ja, Wissen macht mich durstig. Die Emotion folgt dem Lernen auf dem Fuße, Beifuß sozusagen. So wie das quartäre Sediment, dessen chemische Zusammensetzung mir ein Stück unseres wundervollen Planeten erklärt und das unter meinen Schritten rieselt. Egal ist das keineswegs, aber bald  wird es mich nicht mehr kümmern.

Entschlossen stehe ich an der metaphorischen Gabelung. Der Wanderweg geht hier passend zu Ende, zu meinem Ziel führt kein Pfad, lediglich eine hochalpine Wiese, gepflastert mit zarten Gräsern, die dem rauen Winter standhielten. Mein alter Rucksack ist schwerer als je zuvor, den drei Gasflaschen ist’s geschuldet. Schwungvoll landet er auf dem Grund und ich verschwende weder Sekunden noch Atem, befestige sogleich das gelbe Warnschild. Es wird meine letzte Sprechblase sein, zu meiner Botschaft an die Menschheit führen, die ohnehin niemanden interessieren wird. In ein, zwei Tagen wird das Schild gelesen, ein Bauer auf dem Weg zur Alm oder ein Wanderer auf der Suche nach Aussicht wird es auffinden. Vorerst bleibt es gewiss mein Geheimnis, niemand wird es entdecken, der Wetterbericht hat es mir verraten. Ein zweiter Schwung und das Gepäck liegt wieder auf meiner Schulter, bleiern, schicksalshaft. „Weiter geht’s“, ermuntere ich mich selbst, „bis es nicht mehr weiter geht.“

Erleichtert setze ich mich vor dem aufgebauten Zelt hin. Viertel nach drei Uhr nachmittags, es verbleiben Minuten, Stunden, wenn ich will, um das zu tun, das meine Organe von der Spende ausschließt. Ich pfeife ein Lied und zünde mir eine Zigarette an, bin wie üblich zufrieden mit der Welt. Zufrieden bin ich in der Tat beinahe immer, nur das mit dem Glück ist so eine Sache. Es ist ein Rätsel oder bloß ein Märchen. Ich ziehe tief, da überkommt mich plötzlich der Wunsch, die fernen Sonnen ein letztes Mal zu erspähen. Ein Blick ins Innere des Zelts versichert mir, dass keine Kleinigkeit fehlt. Ein Umschlag gefüllt mit sämtlichen Dokumenten, ob wichtig oder optional, liegt in Folie geschweißt auf der Decke, die mein Gesicht verhüllen wird, daneben das Klebeband und der Zettel. Der Rest, Habseligkeiten sowie die Videos, warten in meiner Wohnung auf einen Finder. „Es kann nicht schaden“, sage ich mir, will bis zum Erscheinen der Sterne ausharren.
Ruhig sitze ich auf der Wiese und betrachte den Himmel. Ich bin ein wenig enttäuscht, weder Angst noch Melancholie überkommt mich. Gleich ist es elf Uhr abends. Ich bin bereit, verabschiede mich vom Firmament mit fliegenden Küssen und einem wonnigen Lächeln, ehe ich den Zettel außen an die Plane klebe und ins Zelt krieche.

„Das ist absolut verrückt“, murmelt er vor sich hin, während er den Berghang entlangmarschiert. In seiner linken Hand hält er einen laminierten Flyer aus gelbem Papier. Vorhin am Telefon hat ihm die Beamtin geboten, er solle am Fundort des Schriftstücks bleiben bis die Polizei oder Feuerwehr eintrifft, aber die Nachricht auf dem Zettel trieb ihn voran. Hallo, wenn Sie diese Zeilen lesen, verständigen Sie bitte die Polizei darüber, dass auf der Jakobsalp ein Bergungsteam benötigt wird. Vielen lieben Dank für Ihre Hilfe, ich wünsche Ihnen einen schönen Tag, stand darauf in sauberer Handschrift geschrieben. „Ein Bergungsteam“, widerholt er teils verängstigt, teils wütend. Der Regen hatte am frühen Abend begonnen, war danach zum Gewitter angeschwollen und wäre da nicht der fürchterliche Streit mit seiner Frau gewesen, säße er nun neben ihr auf der Couch. Konjunktive waren seit jeher seine Schwäche, eine geistige Obsession, die sein Leben bestimmte, es zuweilen gänzlich in die Irre führte. Wenn das eine oder andere so und nicht anders wäre, dann verbrächte er seine Abende kaum mit einer Frau, die das Haus nie verließ. Wäre es hingegen anders und nicht so, hätte sie keine Agoraphobie und er liefe nicht der morbiden Neugier entgegen.
„Blödes Ding“, schimpfte er über den zu schmalen Strahl der Taschenlampe. Er stolpert, landet auf der Wiese, die Knie in den weichen Grund gebohrt. „Hallo?“, ruft er erneut, dann nochmal, „Hallo!“ Wer den Zettel geschrieben hatte, glaubte nicht auf eine nächtliche Rettung im Gewittersturm. Wahrscheinlich hatte der Verfasser überhaupt keine Rettung im Sinn. Seufzend stemmt er seine schwieligen Hände auf den Boden und richtet sich auf, um angestrengt die mondlose Dunkelheit zu erforschen. „Bergung“, sinniert er laut. „Wer hat das geschrieben? Sicher ein harmloser Streich.“ In seinen Gedanken schreit er „Mörder!“, eine logische Erklärung für den seltsamen Zettel, dennoch beharrt er darauf, dass es sich bloß um einen Streich handelt. Harmlos ist dieser jedoch schon länger nicht mehr, immerhin bringt er sich in große Not. Einsam auf dem Berghang einem Sturm zu trotzen ist keine Leichtigkeit, selbst für einen erfahrenen Berggänger wie ihn.
Hin- und hergerissen verlangsamt er seinen Marsch. Er will aufgeben, der Vernunft zuliebe bis zum Morgen auf der Alm bleiben und bei Sonnenaufgang zurück zum Weg eilen. Dort hätte sein Handy Empfang, er könnte die Polizei benachrichtigen, der Zettel sei lediglich ein böser Streich gewesen. „Ich bin ein Vollidiot“, murrt er heiser, da kann er Husten vernehmen. Vom Keuchen geleitet findet er ein grünes Zelt. Es steht nahe dem Bergkamm und wirkt im Licht der Taschenlampe wie jedes andere. „Hallo“, versucht er es zaghaft, „bitte erschrecken Sie nicht.“ Zur Antwort kommt leises Schnaufen.

Überall hängt das Klebeband an ihm, welches die Ritzen und den Reißverschluss abgedichtet hatte. Auf seinem Schoß liegt ein Häufchen Elend, ohnmächtig, mit Lungen voller Gas. Sanft streicht er etwas Blondhaar hinter ein rotes Ohr. „Da habe ich dir wohl einen Strich durch die Rechnung gemacht, was?“ Der Konjunktiv ist ihm plötzlich unsympathisch, denn wäre der Streit nicht gewesen, hätte seine Frau das Haus verlassen und wäre er ein anderer, gäbe es jetzt keinen Grund für ihn erschöpft zu lächeln. Er hat ein Leben gerettet, selbst wenn es eines ist, das nicht mehr sein wollte. Inmitten des klebrigen Bandes sieht er einen zweiten Zettel, genauso gelb wie der erste.

Hallo
ich danke Ihnen für Ihr Kommen. Bitte lesen Sie diese Zeilen, bevor Sie das Zelt betreten.

Sie werden meine Überreste vorfinden. Der Tod ist eingetreten durch eine beabsichtigte und selbstzugefügte CO2-Vergiftung. Mein Suizid fand am Samstag dem 02.04.2016 um 23:45 Uhr statt.
Ich habe mich bemüht die Angelegenheit so angenehm wie möglich für Sie zu gestalten. Mein Körper wurde sorgfältig auf das Eintreten des Todes vorbereitet, damit Sie keine unnötigen Unannehmlichkeiten vorfinden sollten. Alle notwendigen Dokumente liegen für Sie bereit, darunter meine Identitätsbescheinigung sowie eine Liste mit den zu verständigenden Personen. Persönliches, so wie Abschiedsvideos für meine Liebsten, sind in meiner Wohnung hinterlegt.
Die Ihnen bevorstehende Aufgabe wird für Sie, trotz meiner Bemühungen, unter Umständen sehr belastend sein. Ich möchte mich entschuldigen, Ihnen das anzutun. Ich hoffe Sie können nachvollziehen, weshalb ich Ihren Einsatz dem Risiko vorziehe, von einer mir nahestehenden Person aufgefunden zu werden.
Sollten Sie nicht zum Rettungsdienst gehören oder eine Schulungen im Umgang mit Suizidfällen genossen haben, bitte ich Sie eindringlich, eine zuständige Stelle zu informieren und keinesfalls selbst das Zelt zu betreten.

Vielen lieben Dank. Ich wünsche Ihnen ein wunderbares, glückerfülltes Leben und hoffe, dass Sie noch heute einen Grund zum Lächeln haben werden.

Autorin: Rahel
Setting: Berghang
Clues: Dummheit, Sprechblase, Wissenshunger, Agoraphobie, Flyer
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