Anmerkung: Dieses Oster-Special enthält Horror-Elemente und ist nicht für Kinder geeignet. Mehr zu unseren Warnungen sowie wann und weshalb wir sie anwenden, erfahrt ihr in unseren FAQ.
Die Sonne hatte ihren Zenit überschritten, der Prediger plusterte sich vor seinen Schützlingen auf und stemmte die Hände in die Hüften. „Gut.“ Er begutachtete seine Lämmchen, blies die Backen auf und wiederholte: „Gut. Wir sind für heute fertig, ihr seid entlassen.“ Die Schüller entspannten sich, Schultern rutschten nach unten, erzwungene Lächeln wichen echter Freude und die Jüngeren hüpften ausgelassen davon. Die aus den oberen Klassen blieben bei der Kapelle stehen, verteilten sich in die üblichen Freundesgruppen, sie waren im Alter, in dem jede Gelegenheit für Freiheit genutzt werden wollte. Tarun, Mayra und Arion unterhielten sich ein Weilchen über den Unterricht und als die Erst- und Zweitklässler außer Sichtweite waren, schlenderten die drei ebenfalls den Hügel hoch, hinter dem ihre Waldrandsiedlung lag.
„Ich sage bloß“, holte Tarun aus, was die anderen dazu brachte, frustriert zu ächzen. „Die Lektionen des Predigers sind wirklich seltsam.“
„Wissen wir“, erwiderten Mayra und Arion unisono. Allmählich hatten sie die Nase voll von Taruns ewiger Nörgelei, obschon ihnen die Geschichten des Geistlichen genauso absurd vorkamen.
„Ernsthaft, Leute. Magier, die aus der Gruft steigen, herumstreifende Hasen, magische Lebenssäfte? Das ist totaler Humbu…“
„Tarun.“ Mayra schnaubte und löste den Knoten im Lederband, mit dem sie ihren oberschenkellangen Zopf befestigt hatte. „Ich kann’s nicht mehr hören.“ Arion nuschelte zustimmend und hüpfte über einen Kuhfladen.
„Von mir aus“, motzte Tarun und schubste seinen Freund kurzerhand in einen Haufen Ziegenkacke.
„Bäh, du Blödmann“, zeterte Arion und streckte Tarun die Zunge raus.
„Ihr seid beide Blödmänner“, kommentierte die Bäckerstochter und winkte Bauer Gallus zu, der vor seinem Hühnerstall stand und mit einem hochgewachsenen Fremden sprach. Dieser trug trotz den milden Frühlingstemperaturen eine dicke Wollmütze mit Ohrenklappen und begrüßte die Kinder mit einer ausladenden Geste. „Wer ist das?“, flüsterte Mayra, da drehte sich Gallus ab und humpelte mit der Mistgabel im Schlepptau auf seine Stallungen zu.
„Hallo Kinder.“ Der in einen Pelzumhang gehüllte Lulatsch kam auf sie zu, und Taruns Neugier war nicht länger zu halten.
„Einen schönen Tag, werter Herr.“ Arion und Mayra bleiben ein wenig zurück, beäugten den Fremden misstrauisch. „Wer sind sie?“
„Ah-haha“, feixte der Angesprochene und klopfte sich auf die Brust. „Was bist du für ein freches Lämmchen. Ich bin Lapinus.“ Das verhaltene Gebaren der drei richtig interpretierend fügte er beschwichtigend an: „Keine Grund zur Sorge, ich bin lediglich auf der Durchreise und wollte meinen Proviant abholen.“
„Ach so“, tönte Mayra und ging einen Schritt auf ihn zu. „Für das Ende der Fastenzeit?“
„Ja. Schau, das hab’ ich schon.“ Er präsentierte seinen Tragekorb, der randvoll mit Eiern war. „Zu schade, hat keiner eurer Bauern noch Osterlämmer übrig.“ Er verzogt seine Schnute zu einem gespielt traurigen Ausdruck, bevor er fröhlich flötete: „Nun denn, meine Lämmchen, frohes Fastenbrechen.“ Damit schulterte er seinen Korb, machte zum Abschied einen Knicks und marschierte den Pfad hinunter in Richtung Wald.
„Kurioser Kerl“, meinte Tarun. „Was will der mit so vielen Eiern?“
„Vielleicht lädt er zur Osterfeier seine Sippschaft ein.“ Arion gähnte ausgiebig und zottelte los. „Oder es kommen Freunde vorbei.“
„Bleibt es beim Plan für heute Nacht?“, wechselte Tarun abrupt das Thema, als sie das Eingangstor ihres Dörfchens passierten.
Mayra war als erste beim vereinbarten Treffpunkt neben Gallus’ Nordgatter angelangt. Sie hatte aufpassen müssen, nicht ihrem Vater über den Weg zu laufen, der machte sich zu der Nachtstunde nämlich schon bereit für seinen Arbeitstag in der Backstube und las am Küchentisch die Zeitung vom gestrigen Morgen. Das Fastenende rückte näher und er war damit beschäftigt, seine traditionellen Osterbrötchen vorzubereiten.
„Hey“, wisperte Arion, als er mit Tarun hinter Gallus’ Scheune auftauchte und die beiden grinsend zu Mayra trabten. „Musstest du lange warten?“
„Nö. Geht so.“ Ihr Plan stand seit dem letzten Jahr, damals hatten die drei Kinder ihre erste Fastenzeit mitgemacht und sich geschworen, diesen Brauch zu sabotieren. Arion und Mayra ging es dabei um den knurrenden Bauch und Tarun ließ sich für alles begeistern, das den Prediger ärgern würde. „Kann es losgehen?“
„Ja, ich habe extra den großen Sack mitgenommen, so können wir noch mehr Eier einpacken als beim letzten Diebeszug“, schmunzelte Tarun. Es war das vierte Mal, dass sie sich in den vergangenen neununddreißig Tagen heimlich rausgeschlichen hatten, um sich etwas Essbares zu stehlen und es in ihrer selbstgebastelten Waldhütte zu vertilgen.
„Da!“, stieß Arion plötzlich aufgebracht aus und zeigte zum Hühnerstall. Eine hagere, langgewachsene Gestalt lehnte sich gegen die Außenwand, im Gegenlicht des Vollmonds waren keine Details erkennbar, aber der Schemen hielt die Arme vor der Brust verschränkt und schien sie unverhohlen anzustarren.
„He!“, rief Arion. „Wer sind Sie?“
„Pst.“ Mayra boxte ihrem Kammeraden auf den Oberarm und rügte ihn: „Sei still, willst du erwischt werden?“
„Zu spät“, kicherte der Schatten und hüpfte ein paar Meter davon. „Da habe ich euch erwischt. Erwischt habe ich euch, haha.“ Er klang so, wie niemand sonst, kindlich, gleichermaßen uralt. „Erwischt, erwischt“, quietschte er, ein bisschen amüsiert, ein wenig fies. Dann sprang er los, hechtete ins Unterholz und verschwand im Wald.
„Was zum Henker …“, holte Tarun verdattert aus. „Was war das?“
„Ein Bär vielleicht?“ Arion hatte darauf bestanden, der kuriosen Erscheinung hinterherzustellen, er war überzeugt, es würde sie verraten und er hatte keine Lust darauf, sich wegen ein paar geklauten Lebensmitteln mit dem Priester anzulegen. Tarun wäre das zwar recht, die Aussicht auf eine mitternächtliche Verfolgungsjagd gefiel ihm allerdings noch besser, und Mayra hatte sich nach einer Weile von seinem Enthusiasmus für die Verbrecherjagd zermürben lassen.
„Nein, kein Bär. Sieht eher aus wie von einem Wolf.“, sinnierte Arion laut. Sie waren der Spur auf eine Lichtung gefolgt, an deren Ostende einige moosbewachsene Steine einen Bogen bildeten, eine Art Portal in eine enge Höhle.
„Jetzt macht nicht einen auf erfahrenen Jäger“, befahl sie, während die beiden Jungs über einem riesigen Fußabdruck kauerten und darüber fachsimpelten. „Die Fährte führt da rein, in die Gruft von Dunkelwald“, erklärte sie und erschauderte bei dem Namen dieses sagenumwobenen Orts.
„Jaja“, klönte Tarun, erhob sich und konnte es sich nicht verkneifen, seinem Kumpel einen kleinen Schubs zu geben, sodass dieser auf dem Hosenboden landete und leise fluchte. „Gehen wir hinterher.“
„Was?“ Mayra schaute den anderen entgeistert an. „Vergiss es. Ihr kennt die Geschichten vom Hasenmonster, das da drin haust. Der Priester hat uns so oft davor gewarnt, in diese Gru…“
„Papperlapapp, das sind Ammenmärchen, wie alles, was der alte Narr erzählt“, lachte Tarun und stellte seine Tasche ab. „Du bist viel zu leichtgläubig.“ Er kramte seine Fackel aus dem Beutel und entfachte sie mit einem Streichholz.
„So ungern ich es zugebe“, begann Arion, rappelte sich auf und klopfte den Dreck von seiner Hose. „Ich bin Taruns Meinung, die Mär vom menschenfressenden Ungeheuer ist tatsächlich albern und, naja …“, druckste er, „… mir wäre es schon lieb, wenn wir diesen Kerl einholen und davon abhalten, uns zu verpfeifen.“
„Macht, was ihr wollt“, seufzte Mayra. „Mir ist das nicht geheuer, ich bleibe hier.“
Nachdem sich Arion und Tarun durch den schmalen Eingang gequetscht hatten, folgten sie den Spuren durch einen Stollen, fühlten, wie sie stetig tiefer in die Erde hinabstiegen. Nach einigen Minuten veränderte sich der Boden, sie traten vom lehmigen Erdreich auf feuchten Stein und damit war die Fährte zu Ende.
„Und nun?“, wollte Arion wissen, woraufhin Tarun schmunzelnd antwortete: „Geradeaus weiter, es gibt ja bloß diesen einen Tunnel, also is… Moment“, unterbrach er sich, legte den Zeigefinger auf den Mund und deutete auf einen Spalt im Gestein. Die beiden Jungs streckten ihre Köpfe hindurch und zischten beeindruckt. „Boah“, staunte Tarun und schob sich durch die Öffnung. Er hielt seine Fackel hoch und drehte sich einmal im Kreis, beleuchtete damit die Grotte, deren Wände mit filigranen Schnitzereien verziert waren. „Wahnsinn!“
„Ist das die Gruft?“, fragte Arion, wandte sich um und ein Schrei entwich ihm, als er im Flackern einiger Öllampen die düstere Gestalt erkannte, die ihnen im Schneidersitz hockend den Rücken zukehrte.
„Was hast du … ah!“ Erschrocken ließ Tarun seine Funzel fallen und packte Arion am Ärmel, rückte dicht an ihn heran.
„Willkommen“, hallte die verstörend jugendlich-kratzige Stimme durch die Höhle. In der Wand neben ihnen lugten scharfkantige Stecken hervor, bei näherem Hinsehen entpuppten sie sich als Knochen. Arion fuhr entsetzt zusammen, da entdeckte er einen pelzigen Fetzen, zwischen ihnen und dem Wesen.
„Der Umhang“, flüsterte Arion. „Das ist der Umhang des Fremden, den wir bei Gallus getroffen haben.“
„Kommt näher, ihr lieben Lämmchen, ich tue euch nichts.“ Die Jungs zitterten, ob vor Kälte oder Angst war ihnen selbst nicht klar, doch sie schritten, wie von einer fremden Macht geführt, auf den Großgewachsenen hinzu, erstarrten erst, als seine Umrisse aus den Schatten glitten, sie seine Züge sahen. Er streifte seine Wollmütze ab, fleischige Lappen kamen zum Vorschein, die neben seinem Gesicht herunterhingen, sie waren rosig, von einem feinen, gelblich-weißen Flaum überzogen. „Nun kommt. Ich freue mich, habt ihr zu mir gefunden.“ Er lehnte sich vor, sein dürrer Körper nahm eine bizarre Form an, seine Knie ragten spitz in die Höhe.
„Sind das …?“, stammelte Tarun, einen Haufen Steine zu Füßen des Fremden fixierend. Bloß war es nicht Geröll, es waren aufgeknackte Schädel, die aussahen, als hätte sie jemand wie ein Frühstücksei ausgelöffelt. „Nein, nein, das ist unmöglich!“ Sie kamen vor der Kreatur zum Stehen, betrachteten sie mit schockgeweiteten Augen.
„Das Hasenmonster“, sprach Arion aus, was keiner von ihnen glauben wollte. „Der Priester hatte recht.“
„Ach, ach, Monster ist ein unschönes Wort.“ Er war halb Mensch, halb Rammler, ein Mischwesen, ein Verstoß gegen Gottes Kreation. „Ich sagte euch, mein Name ist Lapinus.“ Er erhob sich mit in fließender Grazie, den Jungs stockte der Atem und sie gerieten in paralysierende Panik. An den geschwollenen Lippen der Bestie zuckten Schnauzhaare, ein durch und durch bösartiges Lächeln entblößte zwei kantig zersplitterte Nagezähne und seine Ohren wackelten rhythmisch. „Ich bin Lapinus, der Hüter des Osterfests und ihr, meine zwei allerliebsten Lämmchen, seid herzlich dazu eingeladen.“
„Lauf!“, brüllte Arion seinem Freund zu, mit aller Kraft versuchte er seine Beine zu bewegen, in Sicherheit zu flüchten. „Lauf, Tarun, lauf!“, wiederholte er und bemerkte, wie ihm die Laute in der Kehle stecken blieben, all seine Bemühungen vergeblich waren.
„Na, na, seid brave Lämmchen“, säuselte das Untier direkt in ihren Gedanken, donnerte durch ihr Gehirn und zwang sie in die Knie. „Lass uns für die Unschuldigen beten, sie vor der Schlachtung ehren.“ Weder Arion noch Tarun waren fähig, sich zu regen, mussten zuschauen, wie Lapinus seine samtigen Klauen ausstreckte, seinen Umhang aufhob und einen Dolch an sich nahm. „Lämmchen Gottes, die ihr tragt die Sünde der Welt“, dröhnte es aus dem unmenschlichen Biest heraus, seine Andacht vibrierte regelrecht durch die Leiber der Kinder, hypnotisierte sie weiter hinab in die geistige Schwärze. „Lämmchen Gottes, die ihr tragt die Sünden der Welt, gebt uns euren Frieden.“ Er beugte sich über Tarun, strich dem Jungen mit seinen feinen Krallen über die Wange und gab ihm einen Kuss auf die Stirn, ehe er zustach.
Tränen verschleierten Arions Sicht, dennoch wurde er vom dem Grauen, das sich direkt neben ihm abspielte, nicht verschont. Taruns unermessliche Angst, der Schmerz, der sich von seinem Adamsapfel über seinen Torso bis in die äußersten Winkel seines irdischen Körpers ausbreitete, hallte in Arions Wahrnehmung wider. Er war zum Resonanzraum von Taruns Qualen geworden und erst als der Schlächter die Schädeldecke seines Kindheitsfreundes aufriss, hörte es auf. „Mh“, schmatzte Lapinus genüsslich. „Ein vorzügliches Opferlamm.“ Taruns Essenz verflüchtigte sich in eine leere, lähmende Einsamkeit.
Als Arion wieder zu sich kam, schoss er keuchend hoch, knallte dabei mit seinem Kopf gegen Mayra. „Tarun!“ Er hustete, würgte und erbrach sich schließlich. Der Wald surrte, verzerrtes Vogelgezwitscher drang zu ihm durch, vor ihm saß Mayra.
„Arion. Arion, was ist geschehen?“ Sie hielt ein blutgetränktes Taschentuch in Händen, beäugte ihn besorgt und streckte die Finger nach ihm aus, wollte ihn festhalten, als er sich mit gemarterter Miene hochstieß. „Arion, bitte, bleib sitz…“
„Ich muss zurück!“ Sein Blick war manisch. Arion wandte sich ein paar Mal um, bis er die Pforte zur Gruft fand, dann kroch er darauf hinzu. „Zurück“, murmelte er vor sich hin, trat nach Mayra, als sie ihn halten wollte. „Zurück, ich muss zurück. Lämmchen Gottes, ich trage die Sünden der Welt.“ Die Geräusche des Waldes verstummten, Mayra hörte auf zu existieren, in ihm stürmte der Drang, sich verspeisen zu lassen. „Meinen Frieden sollt ihr haben, mein Blut soll euch schützen.“ Er registrierte Mayras Kreischen längst nicht mehr, als er sich durch den Felsspalt drängte und seinem Schicksal entgegenfieberte.