Lina fluchte, als sie ihren Wagen über die Zufahrtsstraße zum Hof lenkte und begriff, was für ein Drama sich vor ihr abspielte. Zumindest in jeder anderen Familie könnte man das ein Drama nennen, dachte sie sich, als sie anhielt und sich die Bescherung besah: Ein Traktor stand quer auf dem Kieselweg, der Tank-Anhänger war umgekippt und von einer braunen, bestialisch stinkenden Lache umgeben. Lina stieg, eine weitere Verwünschung ausstoßend, aus und ging auf das Chaos zu, wohlbedacht, nicht in den Schlamassel zu treten. „Papa? Alles in Ordnung bei dir?“
Ihr Vater, ein älterer Herr in einem Karohemd und Jeans, tauchte hinter dem Traktor auf und antwortet erstaunlich gutgelaunt: „Ja, ja, Kleines. Schön, dich mal wieder in der Gegend zu sehen. Ich habe nur ein bisschen Dünger auf die Straße gekippt.“
„Witzkiste“, entgegnete sie trocken. „Das ist Gülle. Infernalisch stinkende Kuhkacke!“
„Ach, kaum hast du Uni-Ferien, wirfst du mit all deinen neuen Fremdwörtern um dich“, lachte der Vater und lehnte sich an den umgekippten Anhänger, der dabei einige Zentimeter weiter in die Güllelache rutschte, was Lina beinahe einen Warnschrei entlockte, sie beruhigte sich jedoch, als das Ding wieder zum Halten kam. Aufatmend meinte die angehende Informatikerin: „Papa, bitte, das ist kaum ein Fremdwort, das man auf der Uni in einem Masterstudiengang lernt. Plus: Jedes Mal, wenn ich euch für ein Wochenende besuche, geht hier alles drunter und drüber. Letzten Monat hätte Mama fast den Dachstock des Hofs abgefackelt, jetzt das … ihr seid unmöglich!“
„Och, hab dich nicht so, ist halt das Landleben. Wenn ein Stein auf der Straße liegt, fliegt einem die Kuhkacke um die Ohren, kann schon mal passieren. Ich bin eher neugierig, wo all die Steine plötzlich herkommen.“ Der Vater musterte kurz die Unfallstelle und erklärte: „In einer Stunde sollte hier alles wieder gut sein, dann kannst du zu Haus hochfahren. Wenn du magst, kannst du so lange noch im Dorf einkaufen gehen.“
Lina fasste sich an die Nasenwurzel und verschob dabei unabsichtlich ihre Brille. „Okay, okay, mache ich. Braucht ihr noch was?“
„Hm. Ein paar Bilderrahmenhaken, falls der Müller vom Eisenwarenladen die führt. Der Hausdrache hat gestern mit dem Abstaubwedel zwei Bilder heruntergerissen.“
„Ich schau mal, was ich finde – bis später, Papa!“ Lina hatte längst aufgegeben, die unhöflichen Spitznamen ihrer Eltern zu kritisieren, sie wusste, die beiden mochten sich trotzdem. Nur, wie ein geistig gesunder Mensch zwei Tage unter ihnen aushielt, war ihr weiterhin ein Rätsel. Seit sie als jüngste Tochter vor sechs Jahren weggezogen war, waren ihre Eltern stetig schrulliger geworden. Irgendwann erreichten sie den Punkt, in dem sie das ganze Dorf zerstörten und dann darüber lachend in der brennenden Kneipe säßen, daran hegte sie mittlerweile keinen Zweifel mehr. Lina stieg wieder in den Wagen, startete den Motor und lenkte ihn vorsichtig zurück in die Richtung der Landstraße. Sie war kaum begeistert davon, bei ihrem Mangel an räumlichem Vorstellungsvermögen noch über zwei Hügel rückwärts im Schritttempo fahren, traute sich aber genauso wenig zu, den Wagen auf dem schmalen Weg zu wenden. „Himmel, der Blödsinn hat mir gerade noch gefehlt“, brummte Lina genervt, zirkelte vorsichtig weiter und beobachtete die sich über den Bergen auftürmenden Gewitterwolken. „Na, hoffentlich wäscht der Regen die Gülle weg.“
Als sie auf der nächsten Hügelkuppe ankam, durchfuhr ein Ruck den Wagen, gefolgt von einem Knall. Die Lenkerin trat hart auf die Bremse und stieß einen Schreckensruf aus. „Fuck!“ Eilig zog sie die Handbremse und stieg aus, um sich die Sache anzusehen. Sie begriff sofort, was das Problem war: Ein spitzer, viel zu großer Stein für den Weg, hatte ihrem linken Hinterreifen den Rest gegeben. „Gottverdammtes Schießkaff!“, brüllte sie, schlug die Autotür zu, setzte sich resigniert auf den Kies und starrte auf die im aufkommenden Wind wippenden Grashalme.
Erst nachdem sie sich etwas abgeregt hatte, öffnete Lina ohne aufzustehen die Fahrertür, verrenkte sich und nestelte das Handy aus dem Wagen, um die Nummer des Dorfmechanikers herauszusuchen. Sie entsperrte das Display, nur um ein genervtes Geräusch von sich zu geben, als sie begriff: Kein Empfang, kein Internet, kein Telefonnetz, nichts. „Toll. Hatte ja auch im Kinderzimmer kaum Netz, hier draußen kann man es anscheinend ganz vergessen …“ Am liebsten hätte sie nun ihre Freundin angerufen und ihr von ihrem Tag erzählt, vielleicht über ihre Lieblingsserie diskutiert, egal was, Hauptsache nicht auf einem Hügel am Ende der Welt festsitzen und einen Sonnenbrand bekommen. Die Kieselsteine piekten sie durch ihr dünnes Sommerkleid und sie raffte sich auf. Statt hier untätig zu sein, würde sie ein Pannendreieck aufstellen und zurück zum Hof gehen, entschied sie mit neuer Entschlossenheit, als hinter ihr ein lautes Hupen erklang und ein Jeep zum Halten kam. Ihre Mutter sprang aus dem Geländewagen und marschierte auf sie zu. „Kindchen, wieso um Himmelswillen sitzt du dir hier oben den Hintern platt? So gut ist die Aussicht auch wieder nicht, da stehen nur ein paar Strommasten und Kühe in der Landschaft rum.“
„Hallo Mama. Auto hat einen Platten“, gab Lina resigniert zurück. „Ist nicht mein Tag.“
„Oh“, machte die resolute Mittfünfzigerin, trat zum Wagen und musterte das Rad. „Und wieso hast du ihn nicht gewechselt?“
„Weil ich keinen Wagenheber im Kofferraum habe“, seufzte die Tochter. „Ich frage mich sowieso, wie dieser spitze Brocken auf dem Hügel kam, sieht aus wie von einem Steinbruch.“
„Ach, die habe ich ausgelegt, um den Meiers eins auszuwischen, die ständig unsere Zufahrtstraße brauchen, ohne für die Wegrechte zu bezahlen. Man muss nur wissen, wo sie sind, dann kann man gut ausweichen.“
„Halt mal … Du hast was gemacht?“
„Wenn die erst mal einen Platten haben, verstehen sie den Punkt, den ich machen will. Mit denen kann man nicht reden, da muss gehandelt werden.“ Sie klopfte ihrer Tochter aufmunternd auf die Schulter. „Komm schon, Stadtmädel, kein Gejammer in unserer Familie. Wir holen den Wagenheber und ersetzen deinen Reifen, danach fahren wir hoch zum Hof.“
Lina zog ihre Brille aus, kniff die Augen zu und unterdrückte einen nahezu verzweifelten Aufschrei, ehe sie murmelte: „Okay, Mama.“