„Die Gegenwart ist langweilig. Natürlich, wir haben all die tollen Dinge, die eine moderne Gesellschaft braucht, wie Kontakt mit allen Freunden und Zugang zu fast allem Wissen der Menschheit via Internet, geheizte Wohnungen, Netflix und trotz all dem geschieht absolut nichts Spannendes im echten Leben …“ Mia unterbrach sich und sah von ihrer Arbeit auf. „Mit wem spreche ich überhaupt?“
Niemand antwortete ihr, einzig ein Bimmeln erklang in dem Straßenzug vor dem spätabends leeren Großraumbüro, vermutlich hatte mal wieder ein Lieferwagen die Tramgleise blockiert. Entschlossen erhob sich Mia und schlenderte wesentlich weniger zackig in Richtung der gemeinsamen Küche, um sich einen neuen Tee zu holen, ehe sie sich den letzten Aufgaben des langen Tages widmete, um am Ende noch das Postfach beim Eingang zu leeren, das sie seit vorgestern ignoriert hatte. Beim Teekrug auf der Anrichte angelangt, fiel ihr ein Maßband auf, das vermutlich Karin aus der Buchhaltung liegengelassen hatte. Die nervtötende Karin, die ständig auf der Arbeit maßgeschneiderte Kleider bestellte und sie nie mit Fragen dazu, was an ihr gut aussähe, in Ruhe ließ. Mia hielt inne und überlegte nur für eine Sekunde, ehe sie sich entschied, ihr Leben interessanter zu machen, es war höchste Zeit für etwas Veränderung! Seit Jahren hatte sie mit dem Gedanken gespielt, sich auch mal ein wenig Freude zu gönnen, denn nein, mit Freunden im Restaurant zu sitzen ging bei ihr bestenfalls unter Alltagstrott. Mia war ein äußerst gelangweilter Mensch, sie liebte es, im Chaos zu leben, blühte regelrecht auf, wenn alles um sie herum kurz vor dem Scheitern stand. Nur arbeitete sie blöderweise in einer Biotechfirma, wo Chaos am Arbeitsplatz aus naheliegenden Gründen unerwünscht war. Seit Jahren hatte sie sich davor gedrückt, den Voraussetzungen für einen großartigen Tag im Büro auf die Sprünge zu helfen, jetzt endlich bot sich die beste Gelegenheit dazu, es einfach zu tun. Nervös vor Vorfreude, als wäre sie ein kleines Mädchen, trippelte Mia zurück zu ihrem Schreibtisch, riss die unterste Schublade auf und besah sich ihre Kollektion von kleinen Fläschchen, die sie im Laufe der Zeit aus der Forschungs- und Entwicklungsabteilung hatte mitgehen lassen, bis sie fand, was sie suchte. „Präparat AJ-HC-67. Starkes Abführmittel.“ Sie erinnerte sich daran, dass diese Probe damals den Mitarbeitern im Labor ausgekippt war und ein Forscher Hautkontakt mit der Flüssigkeit hatte, ehe er den ganzen Tag auf dem Klo verbrachte. Selbstverständlich wurde danach mit der Probe nicht weiter geforscht, aber Mia war überzeugt, dies wäre die perfekte Lektion für die nervtötende Karin. Sie zog Einweghandschuhe an, öffnete das Fläschchen und rieb etwas davon auf das Maßband, ehe sie durch das Büro zu Karins Tisch ging und es gut sichtbar neben die Tastatur legte.
Mia konnte ein Kichern kaum unterdrücken, als sie mir diabolisch verstellter Stimme murmelte: „Etwas Kontamination auf dem Schreibtisch hat noch niemandem geschadet.“ Vorsichtig zog sie die Handschuhe wieder aus und entsorgte sie, sie wollte nicht am Ende selbst zum Klo rennen müssen. Mia hielt inne und entschied sich, ihr Tageswerk wäre getan, die restlichen Mails könnte sie genauso gut morgen beantworten. Ein letztes Mal sah sie in ihre Schublade voller stibitzter Substanzen und überlegte sich, mit wem sie hier noch ein Hühnchen zu rupfen hatte. Eigentlich war Mia kaum rachsüchtig, nur, wenn sie Action wollte, würde jemand weiteres einen schlechten Tag haben, vielleicht mit dem Brechmittel oder dem Schlafgas in Kontakt kommen und das wollte sie niemandem antun, der stets nett zu ihr gewesen war. Der Alltagstrott hatte ein Ende, eine Woche voller Unterhaltung kam auf sie zu. Mia griff in die Schublade, nahm das Fläschchen mit Präparat CX-RH-06 zur Hand und ließ einen Tropfen auf ihre Zunge fallen. „Das Zeug macht eine gute Laune und ich habe mir einen kleinen Freudentaumel verdient.“ Immerhin war die Substanz weder als Droge noch als Medikament klassiert, das Zulassungsverfahren würde ewig laufen, so lange tat sie nichts Illegales. Nun ja, außer geheime Forschungsergebnisse zu studieren und Proben aus dem Labor zu stehlen. Als Mia ihren Schreibtisch abschloss, die Handtasche aufhob und aus dem Fenster sah, bemerkte sie, wie ein Rabe auf der Fensterbank gelandet war und sie beobachtete. „Nein, kein CX-RH-06 für dich, kleiner Freund“, kicherte sie. „Keine Ahnung, wie das Zeug auf Vögel wirkt, vielleicht würdest du tot vom Himmel fallen, explodieren oder sonst was. Such dir besser Brotkrümel im Park.“
Damit wandte sie sich vom gefiederten Beobachter ab und schritt auf den Lift zu. Zuhause warteten ein Tiefkühl-Abendessen und ein warmes Bad auf sie, in dem sie darüber nachdenken konnte, wem als nächstes ein Missgeschick passierte und mit welchem Präparat. Jahrelang hatte sie sich gelangweilt, bis sie endlich zum Schluss kam, dass ihr Leben nur Freude bereiten konnte, wenn sie selbst für Unterhaltung und Chaos sorgte. Mit einem glückseligen Grinsen trat sie in die Aufzugskabine, drückte den Knopf fürs Erdgeschoss und flüsterte: „Die Zukunft wird spannend.“