„Hast du das Paket?“, zischte Caleb. Wegen dieser spontanen Aktion vom Herd gerufen worden zu sein, ärgerte ihn ungemein.
„Hier entdeckt uns niemand?“, tönte es aus der Finsternis. Er stöhnte auf: „Ja, verdammt, das ist eine dunkle Ecke ohne Kameras und hier ist keiner. Gib mir das Paket.“
„Nicht so hektisch, wir haben Zeit.“
„Du vielleicht, ich habe zuhause eine Lasagne im Ofen.“ Caleb bemühte sich geduldig zu bleiben – wieso glaubten diese Deppen immer, er sei für ein Schwätzchen zu haben? Wen sie ihm auch vorbeischickten, um ihm den Umschlag zu geben, es dauerte stets eine kleine Ewigkeit, es hinter sich zu bringen. „Ich bin nicht für Kaffee und Kuchen hier und lasse mir nicht eine Hausratsversicherung oder ein neues Auto andrehen, Mann. Mach vorwärts.“
„Erst das Passwort“, entgegnete der andere. „Sicher ist sicher.“
„Okay.“ Gerne hätte Caleb den Burschen an der Gurgel gepackt, aber seine Forderung war angebracht. „Das Passwort ist Monstera. Der Boss mag wohl Pflanzen.“
„Wer mag Pflanzen nicht? Die sind toll“, sagte der Unbekannte und reichte ihm den Umschlag. „Bitte. Ich bevorzuge ja Efeu.“
In der Dunkelheit sah Caleb schlecht, trotzdem fielen ihm die festlichen Aufkleber auf dem Karton auf. „Wieso habt ihr glitzernde Sternchen draufgeklebt?“
„Weniger verdächtig“, behauptete der andere. „Wenn Sticker drauf sind, schaut es wie ein Geschenk für irgendein Kind aus.“
„Das ist eine unpassende Generalisierung, einige Kinder finden Glitzer scheiße, zudem ist bald Ostern, nicht Weihnachten“, konterte Caleb trocken.
„Himmel, bist du nervtötend. Nörgelst an allem rum, was?“ Der andere wirkte verstimmt. „Egal. Ich verschwinde jetzt und in fünf Minuten kannst zu deiner blöden Lasagne.“
Caleb sparte sich einen bissigen Kommentar, der ihm zur kulinarischen Gleichgültigkeit des Gegenübers einfiel und freute sich stattdessen lieber auf seine Lasagne. Routiniert wandte er sich ab, als die Gestalt auf die Straße schlich, damit er sie im Licht der Laternen nicht erkannte. Der Typ hatte bestimmt eines dieser Gesichter, die man unentwegt boxen möchten. Natürlich wusste er das nicht, schließlich trafen sie sich absichtlich an einem zappendusteren Ort. Es war ein Vorteil, möglichst nie ein Gesicht zu sehen, das hatte er in seiner Zeit beim Widerstand schnell gelernt. Er war nur ein Glied in der Kette, nahm Umschläge von einer Widerstandszelle an und lieferte sie zur nächsten, je weniger er wusste, desto besser. Kaum jemand kannte den anderen, so konnte auf keiner plaudern, der geschnappt wurde.
Erleichtert, endlich seine Ruhe – und bald seine Lasagne – zu haben, setzte sich Caleb auf eine leere Kiste, die im Müll in der Seitengasse lag. Er durfte unter keinen Umständen in den Umschlag schmulen, das war Teil der Arbeit, doch die Neugier siegte jedes Mal. Bislang waren es geheime Unterlagen der Regierung gewesen, vor allem militärische Dinge, Kriegs- und Weltherrschaftspläne, kurz: Alles, was ein totalitäres Regime eben so tat. Er hatte das wenigste davon begriffen, lediglich einen Blick darauf geworfen und die Umschläge anschließend in einem Gebüsch im Park deponiert. Gespannt nestelte er die Lasche auf und zog die Dokumente heraus. Ein schlechtes Gewissen hatte er nicht, immerhin riskierte er für die Sache seinen Kragen. „Hm“, brummte er. Die Papiere fühlten sich anders an, beinahe wie Kunststoff.
Nachdem er sich vergewissert hatte, dass weder Polizisten noch andere regimetreue Bürger in der Nähe waren, schaltete er seine Taschenlampe ein. Er überflog das Blatt, das den anderen Bogen, die ihn an Röntgenbilder aus alten Arztserien erinnerten, beilag und entzifferte einzelne Worte: „Bildgebendes Verfahren … Diagnose bestätigt … terminal … Halt mal!“ Da stand er, schwarz auf weiß, der Name, den jeder Bürger kannte, der auf den roten Plakaten prangte, der ihr aller Leben dominierte. „Ha, der Arsch ist am Verrecken“, rief er viel zu laut triumphierend aus und bereute es sofort, als in einem Haus Licht aufflammte. Eilig knipste er seine Taschenlampe aus, steckte die Dokumente zurück in die Tasche und duckte sich so tief ins Dunkel, wie er konnte. Über ihm öffnete jemand ein Fenster und brüllte: „Haltet die Fresse, ihr Trunkenbolde! Wisst ihr eigentlich, wie spät es ist?“
Caleb schwieg und wartete, hielt vor lauter Anspannung die Luft an. Sehr zu seiner Erleichterung schloss die Dame mit der tragenden Stimme das Fenster wieder. Für mehrere Minuten verharrte der Bote des Widerstands reglos, ehe er sich vorwagte und auf die menschenleere Straße linste. „Gut“, flüsterte er und huschte in Richtung des Parks davon, wo er den Umschlag für den nächsten hinterlegen würde, der ihn zu den zuständigen Personen brachte – wer die auch waren und was auch immer die taten. Caleb war nur ein kleines Rädchen im Getriebe, alleine konnte er nicht handeln und er hatte keine Ahnung, was der Widerstand mit dieser Information gegen das Regime anfangen konnte. Dennoch beruhigte ihn, zu wissen was im Umschlag war, gab ihm Hoffnung auf eine bessere Zukunft. Eine Diktatur, in welcher sämtliche Macht bei einer einzigen, offenbar terminal erkrankten, Person lag, war dem Untergang geweiht. Bald wäre das System genug destabilisiert, um zuzuschlagen. Das alte Sturmgewehr lag zuhause im Kleiderschrank geladen bereit, die Revolution konnte kommen.
Calebs größtes Problem war momentan nicht der bevorstehende Bürgerkrieg, sondern die Lasagne im Ofen, die wegen der kurzfristigen Übergabe angebrannt sein musste. Er schwor sich, das Regime zu bekämpfen, denn diese Schweine hatten ihm erst seine Freiheit genommen und ihn nun um sein Abendessen gebracht.