Die Ampel war nun sicher seit vier Minuten rot, als Heinrich sich etwas irritiert am Kinn kratzte und sich fragte, ob er die nächste Grünphase überhaupt noch erleben würde, während im hinteren Teil der Stretchlimousine die Mädels wieder loskreischten. Vermutlich hatte eine der vier Partygängerinnen wieder einen versauten Witz gemacht, den er sowieso nicht hören wollte und die anderen damit zum Herumbrüllen und Rumspringen angestiftet. So lief es schon, seit er die jungen Damen und ihre Begleiter vor der Turnhalle abgeholt hatte und so langsam raubten sie ihm den letzten Nerv damit, aber so war nun mal das Leben eines Chauffeurs.
„Wie lange geht’s denn noch?“, wollte die einzige Brünette mit nörgelnder Ungeduld wissen und schob sich beinahe ganz durch das kleine Fenster, das die Fahrer- von der Gastkabine trennte. Der Angesprochene kniff kurz die Augen zusammen, als wollte er die Frustration damit wegblinzeln, bevor er ruhig antwortete: „Nur noch eine kleine Weile. Der Verkehr ist heute etwas zähflüssig.“ Die Ampel sprang endlich auf Grün und Heinrich fuhr langsam an, währendem er die entnervte Quietschstimme, die versuchte ihm für den Stau die Schuld zu geben, ignorierte.
„Verfluchte Scheiße!“, entfuhr ihm, als ein burgunderfarbener Volvo ihn beinahe von der Spur gedrängt hätte. Es war nichts passiert, der andere Wagen hatte ihn nur etwas knapp geschnitten, doch Heinrichs Herzschlag beschleunige rapide und wollte sich nicht beruhigen, so dass er sich kurzerhand entschloss, die Limousine am Straßenrand zum Stehen zu bringen.
„Ich komme gleich wieder“, sagte er vielleicht etwas zu leise, denn seine angeheiterten Passagiere blickten ihm verständnislos hinterher, als er ausstieg und zur Motorhaube lief. Dort angekommen, versteckte er sich hinter dem Kühler und zwang sich, einige Male tief durchzuatmen. „Alles ist gut. Nichts Schlimmes wird geschehen. Alles ist gut …“, murmelte er immer und immer wieder zu sich selbst, bis das Mantra schlussendlich Wirkung zeigte, der kalte Schweiß auf seiner Stirn verschwand und das Zittern nachließ.
Es war Sylvester, eine Nacht zum Feiern, Toben und Vergessen und Heinrich kam nicht umhin, die Maßen der Feierwütigen ein wenig zu beneiden. Nicht, weil er die Jahreswende selbst gerne in einem stickigen und lauten Club gefeiert hätte, nein, diese Tage lagen lange hinter ihm. Es war das Vergessen, dass er sich wünschte und sei es nur für einen kurzen Augenblick, doch er konnte es sich schlichtweg nicht erlauben, eine Nacht mit Trinken zu verplempern. Zeitverschwendung, egal welcher Art, kam für Heinrich nicht in Frage, nicht nachdem was geschehen war. Seit dem großen Unglück, dass seine Welt wie eine Supernova in ein Schwarzes Loch gesogen hatte, bestand sein Leben nur noch aus Studieren und Arbeiten; nun ja, mal abgesehen vom obligatorischen Essen und Schlafen, natürlich.
„Wenn wir wegen Ihnen die Mitternachtssause verpassen, dann reiße ich Ihnen den Arsch auf!“, schrie einer der jungen Männer und warf ihm eine zusammengeknüllte Schokoriegelverpackung an den Hinterkopf. Heinrich reagierte nicht auf den wütenden Zyklop, der hinter ihm quengelte und tat einfach so, als hätte er nichts gehört, als er die Limousine mit einem mehr oder minder eleganten Schlenker wieder auf Kurs brachte.
Die Stadt glitzerte in Weihnachtsbeleuchtung, Paillettenkleidern und Alkoholflaschen, als Heinrich im Schritttempo ins Ausgehviertel einbog und seine Fahrgäste vor Freude zu Jauchzen begannen.
„Na endlich!“, hörte er eine der Frauen, diejenige, welche bis vor kurzem mit ihrem Bachelor in Kunstgeschichte angegeben hatte, erleichtert sagen und ertappte sich dabei, wie er entnervt die Augen rollte. „Mensch, ich dachte schon wir würden die Party nicht mehr erleben.“
Die Reifen quietschten trotz des gemächlichen Tempos, als Heinrich den Wagen abrupt und mitten auf einem Zebrastreifen anhielt, so dass alle Insassen auf einen Schlag still wurden und aufgeschreckt durch die Fenster starrten.
„Es reicht!“, donnerte Heinrichs Stimme, bevor er sich auf dem Fahrersitz umdrehte und nach hinten blickte. „Hier ist Endstation für euch verwöhnte Gören.“ Als er in die entgeisterten Gesichter sah, wusste er sofort, dass er bald einen wütenden Anruf von seinem Chef bekommen würde, doch das interessierte ihn jetzt nicht und so scheuchte er seine irritierten, jedoch nicht minder aufgebrachten Fahrgäste auf die belebte Straße.
Mit angespannten Fingern klammerte er sich am Stoff seiner Uniformhose fest und betrachtete das bunte Treiben durch die Scheiben der Stretchlimousine, währendem im Radio ein wehmütiges Lied spielte. Er hatte geahnt, dass er es irgendwann nicht mehr aushalten würde, dass er den ständigen Stress und die immer präsente Schuld eines Tages nicht mehr würde ertragen können; diese Herleitung bedurfte kein Genie, denn Heinrich hatte sich seit dem Unglück nun wirklich nicht geschont. Eine festlich angezogene, dicke Frau verweilte kurz neben einem der verdunkelten Fenster der Rückbank und zog ihren Lippenstift nach, vermutlich ohne ihn zu bemerken und eine heiße Träne lief über seine Wange.
Sie war erst acht Jahre alt gewesen und nur wegen ihm würde sie ihren neunten Geburtstag nie erleben. Ab und an erwachte Heinrich mitten in der Nacht, schweißgebadet und dazu verdammt, den Schock immer und immer wieder zu erleben, den er erfahren hatte, als das dumpfe Geräusch ihn aus dem Sekundenschlaf gerissen hatte. Alles was er gewollt hatte, war rechtzeitig nach Hause zu kommen und nur weil er dachte, keine Zeit zu haben, hatte er die Zeit des kleinen Mädchens gestohlen, einfach so weggenommen.
An die ersten Wochen, die dem Unfall folgten, konnte er sich heute kaum noch erinnern, zu sehr verschwanden sie in einem Dunst aus Fassungslosigkeit und Chaos, doch die unermessliche Trauer, die er gefühlt hatte, als der Notfallarzt den Tod erklärt hatte, die war seither allgegenwärtig.
Es war das leise Surren seines Mobiltelefons, das ihn aus seiner Starre aufschrecken ließ und ihn in die Gegenwart zurückbrachte. Die Träne fiel unbemerkt auf den Kragen seines Sakkos, als er sich knapp meldete und sich bemühte, möglichst kühl zu klingen. „Ok, ich schicke dir die Zusammenfassung gleich wenn ich daheim bin.“
Es war die Nacht in der die Zeit über die Jahresgrenze sprang und Heinrich hatte noch viel zu tun, bevor er sich den widerkehrenden Alpträumen stellen würde. Zeit, das wusste er, war nichts, das man leichtsinnig vergeuden sollte, denn er stand in der Schuld des kleinen Mädchens, dessen Leben er frühzeitig genommen hatte. Und er wollte alles dafür tun, die Zeit die ihm blieb, nicht nur für sich selbst, sondern auch für sie voll und ganz auszunutzen.