Diese Story ist auch als Hörgeschichte erschienen.
Diese Geschichte ist Teil der lose verbundenen Story-Reihe „Weihnachtsdorf“.
Marcel steckte seine filigranen Hände tief in die Taschen des Wintermantels, als er über den verschneiten Bürgersteig eines irischen Städtchens schlenderte. Griesgrämig blinzelte er eine Schneeflocke weg, die auf seiner Wimper gelandet war und hoffte, diesen unfreiwilligen Botengang bald hinter sich zu haben. Vermutlich hatte der Chef ihn für diese Aufgabe ausgewählt, weil er ihm seit der Zeit vertraute, in der sie gemeinsam in einer Wohngemeinschaft gelebt hatten. Aus einem der hell erleuchteten Schaufenster blendete ihn eine Halogen-Lampe. Der kleine Mann drehte sich derbe fluchend um. „Klausverdammte Rentierkacke!“
„Pst“, zischte eine ihm unbekannte Stimme aus der dunklen Gasse zu seiner Rechten. Marcel zuckte zusammen. Er starrte in die Schwärze, wo er einen Schemen ausmachte, der an eine Backsteinwand gelehnt rauchte. Er nahm seinen Mut zusammen, atmete scharf ein und trat in den Durchgang. „Sind Sie mein Kontakt?“
„Kommt darauf an“, gab der andere kehlig zurück. „Bist du der Typ vom Nordpol?“
„Seh ich etwa aus wie ein Mensch? Elfen leben ausschließlich am Nordpol, das weiß jedes Kind“, brummte Marcel genervt. „Das soll echt nicht länger dauern als nötig, also …“
„Ganz entspannt, Kleiner“, unterbrach ihn der Fremde ruhig. „Eine solche Transaktion will durchgeplant sein, das ist der potenteste Stoff, den ich je verkauft habe.“
Marcel linste kurz auf die Straße am Anfang der Einfahrt, entdeckte jedoch erfreulicherweise niemanden, der Interesse an ihnen hätte. „Ich möchte nicht erwischt werden, meine Strafakte ist bisher sauber. Und du kennst ja die Geschichten, was sie mit Elfen im Gefängnis machen. Beeil dich gefälligst!“
Lachend schnippte der Dealer seine Kippe in Richtung eines Gullys, den er um einen knappen Meter verfehlte. „Mach dir mal keine Sorgen, Kleiner – es ist Adventssonntag, da geht niemand aus dem Haus. Die Cops essen Plätzchen und bechern Eierpunsch, wir sind also sicher.“
„Okay“, seufzte Marcel. „Wie viel willst du?“
„Das Doppelte, der Preis ist mit der Nachfrage gestiegen.“
Nun konnte sogar der stets beherrschte Marcel nicht mehr an sich halten und wetterte entrüstet: „Du Drecksau willst dir an der Misere eine goldene Nase verdienen? Es geht um das Weihnachtsglück von Millionen Kindern. Du bist keinen Deut besser als die Al-Kaida-Terroristen, die den Schlitten mit Rudolph in die Luft gesprengt haben – das ist Erpressung!“
„Hier in Irland findest du niemanden von der Al Kaida, wenn schon, dann jemand von der IRA“, grölte der Gauner. Außerdem ist es kaum mein Problem, wenn euer normaler Dealer nicht bis Weihnachten seinen Ramsch liefern kann. Mein Stoff ist sowieso zehnmal potenter als der Blödsinn, den ihr sonst kriegt, das rechtfertigt den Preis.“
Marcel verdrehte die Augen. Natürlich hatte ihm der Boss genügend Geld mitgegeben, wohl wissend, was für Abzocker zwielichtige Händler gemeinhin waren. Es fiel ihm schwer, gegen seine Prinzipien zu verstoßen und den Handel durchzuziehen. „Na gut“, gab er zerknirscht nach, „das Doppelte – aber keinen Cent mehr.“
„Deal.“ Hörte Marcel eine Spur der Erleichterung in den Worten seines Gegenübers? Er nahm den unangenehm schweren Koffer zur Hand, den er zwischen seinen Füssen abgestellt hatte und meinte: „Ich habe alles in großen Scheinen, erst will ich den Stoff stehen.“ Nach einigem Zögern fügte er hinzu: „Und erfahren, warum er so viel potenter sein soll.“
Der Dealer kramte ein Päckchen aus seiner Jackentasche und hielt es Marcel hin, dieser griff danach und stellte verblüfft fest, dass es in seine Hand passte. „Ganz einfach, das Zeug hat die hundertfache Dosis Weihnachtsmagie wie reguläres Lebkuchengewürz. Das reicht, um Lebkuchen für sämtliche Kinder zu produzieren, die von Santa an Weihnachten besucht werden.“
„Und wie verdammt nochmal soll ein irischer Gewürzdealer an derartige Mengen Weihnachtsmagie kommen?“, wollte Marcel skeptisch wissen. Da er dem Kerl nicht über den Weg traute, zog er sein eigens dafür modifiziertes Handy aus der Manteltasche, aktivierte den Magie-Detektor mit der passenden App und drückte es gegen das Päckchen. In der Tat begann das Ding wie ein Geigerzähler zu knistern und piepsen. Ungläubig las Marcel das Ergebnis ab: „Vierhundert Mikrogandalf? Das ist so viel Weihnachtsmagie, wie man in eine Christbaumkugel packen kann. Wen hast du dafür ausgeraubt?“
„Ich raube doch niemanden aus“, empörte sich der Dealer. „Ich mache lediglich etwas Profit, aber auch bloß, weil ich sonst meine Rechnungen nicht bezahlen kann. Stehlen dagegen tu ich nie, um das klarzustellen!“
„Ach, komm schon.“ Obwohl Marcel keine Sekunde daran zweifelte, es mit einem üblen Zeitgenossen zu tun zu haben, nahm er das Lebkuchengewürz entgegen und überreichte den Koffer – wenn Santas Amerikalieferung pünktlich sein sollte, musste er Geschäfte mit undurchsichtigen Gestalten leider in Kauf nehmen. Sehr zu seinem Erstaunen fuhr ihn der Dealer gereizt an: „Hey, ich bin ein hochgewachsener Kobold, denkst du echt, ich kriege so einen anderen Job? Du weißt ja, wie diskriminierend Kobolde gegen ihre Artgenossen sind, wenn die weder klein noch betrunken sind – Magie ist das einzige, das ich produzieren kann, also verdiene ich eben damit meinen Lebensunterhalt.“
Beschämt schwieg Marcel, bevor er sich schließlich zu einer Reaktion durchrang. „Oh … sorry, das wusste ich nicht.“ Hochgewachsene Kobolde waren eine noch größere Seltenheit als Zombie-Rentiere. Versöhnlich pulte der Elf seine filterlosen Bonhommes aus der Tasche und hielt ihm das Päckchen hin. „Kippe?“
Nachdem der andere dankend angenommen hatte, fuhr er fort: „Ich heiße übrigens Marcel. Falls du wirklich so gut mit Weihnachtsmagie bist, hätte der Dicke sicher einen Job am Nordpol für dich, ruf mich an, wenn du magst.“
„Shamus, freut mich“, entgegnete der Kobold und nahm die dargebotene Visitenkarte entgegen. „Wer weiß, vielleicht werde ich das tun.“
Marcel trat zu seinem Schlitten und wischte den Schnee vom Fahrersitz, insgeheim verfluchend, dass der Nordpol nur offene Geschäftsfahrzeuge im Fuhrpark hatte. Trotzdem freute er sich auf den Flug und darauf, zuhause einen warmen Kakao zu trinken, um sich bis in die Spitzen seiner Ohren aufzuwärmen. Als die Raketentriebwerke der Rentiere zündeten, sie mit einem Dröhnen abhoben und über die Dächer donnerten, hoffte Marcel, sein neuer Bekannter würde sich tatsächlich für einen Job am Nordpol entscheiden – man konnte nie genug ehrlich hergestellte Weihnachtsmagie haben.