Diese Story ist auch als Hörgeschichte und in einem Sammelband erschienen.
Diese Geschichte spielt im erweiterten Universum der „Promise“-Reihe.
Über den sandigen Straßen flirrte die Spätnachmittagshitze, als Lucy erst einem Kamel, und dann einer in ihre praktische, weiße Tunika gehüllten Frau mit Kinderwagen auswich. Wüstensiedlungen wie diese hatte sie in den letzten zehn Jahren zur Genüge besucht, genauso wie schäbige Ortschaften. Obschon sie grundsätzlich immer alleine reiste, hatte sie sich seit Ewigkeiten nicht so alleine gefühlt wie jetzt. Nun ja, bisher war auch noch nie der Geheimdienst hinter ihr her gewesen. Sehr zu ihrem Erstaunen war sie deshalb nicht aufgebracht, stattdessen einigermaßen gelassen; selbst die für sie untypischen Capri-Hosen störten sie mehr.
Unschlüssig blieb Lucy auf der Straße stehen, sah sich zwischen den ärmlichen Permanentlehmbauten um, entschied sich schließlich für eine Bar zu ihrer Linken und hielt zielstrebig darauf zu. Bei dieser Hitze konnte sie ihre Vorfreude auf ein kühles Bier kaum zügeln, also schritt sie eilig über die Schwelle. Nachdem sie in der Mitte des Raumes anlangte, stellte sie mit Entsetzen fest, in einer Karaokebar gelandet zu sein. Was wie ein grölender Betrunkener geklungen hatte, war Teil des Unterhaltungsprogramms. Die Menschheit mochte schneller als das Licht reisen, die ganze Milchstraße besiedelt haben, aber wer Karaoke auf jeden neuen Planeten exportierte, verdiente das Überleben nicht, befand Lucy. Sie hatte in ihrer Laufbahn einige abscheuliche Dinge getan, Dinge, die jedem vernünftigen Menschen Schande bereitet hätten, verglichen mit dem Katzengejammer des tätowierten Hünen war sie allerdings ein Unschuldslamm. Einzig die Sehnsucht nach einem erfrischenden Getränk brachte sie davon ab, fluchtartig das Weite zu suchen. Den untalentierten Sänger ignorierend schlenderte sie zur Bartheke und meinte zum Wirt: „Ein kaltes Bier.“
„Kommt sofort“, gab er über den Lärm zu verstehen und machte sich an die Arbeit und Lucy nutzte die Gelegenheit, die Menschenmenge genauer zu sondieren. Bislang konnte sie keine Bedrohungen erkennen. Die Betonung lag auf ‚bislang‘, denn früher oder später musste sie jemand aufspüren. Mit einem lauten Knall stellte der Barkeeper einen Bierkrug vor ihr hin. „Macht fünf Lipos.“
Sie kramte in ihrer Hosentasche und warf dem Mann einen Kreditchip zu. „Stimmt so.“
„Danke.“ Er zögerte, bevor er grunzte: „Sonst noch was? Chips, Nüsse …“
„Eine Schrumpfmaschine, um den Kerl auf der Bühne kleiner und leiser zu machen?“, schlug sie schief schmunzelnd vor.
Lachend winkte er ab. „Sorry, nicht im Angebot. Du kannst ihn gerne vertreiben und schöner singen, falls dir das liegt.“
Lucy unterdrückte knapp ein Glucksen; nein, eine Gesangskarriere stünde für sie keinesfalls in den Sternen. „Das lass‘ ich mal lieber bleiben.“ Ihr fiel auf, wie neugierig ihr Gegenüber ihr Gesicht musterte und sie wartete auf die Frage, die sie schon dutzendfach gehört hatte. In der Tat rang der Wirt sich dazu durch, deutete mit dem Daumen auf ihre Wange und murmelte: „Große Narbe, was? Warst du in eine Barschlägerei verwickelt?“
„Nein, ich war Profikillerin und eines meiner Opfer hatte blöderweise ein Messer dabei. Kann den besten passieren.“
Mit geweiteten Augen starrte er sie an, dann brach er in Gelächter aus. „Meine Güte, für einen Moment hätt‘ ich dir das fast abgekauft, so ruhig, wie du das vorgetragen hast. Na, wenn du es für dich behalten willst, quetsch ich dich nicht länger aus.“ Mit einem amüsierten Schnauben wandte er sich dem nächsten Kunden zu, der eben an die Bar trat. Sie zuckte mit den Schultern und verbarg ihr Grinsen hinter dem Bierkrug. Niemand glaubte ihr die Wahrheit. Die alte Lucy, die Version ihrer selbst, die sie bis vor wenigen Wochen gewesen war, hätte sich nie Späße über ihren Job erlaubt, war eine jener gewesen, die mit größter Überzeugung einer vermeintlich höheren Sache dienten. Seit sie per Zufall etwas erfahren hatte, das sie nicht hätte wissen dürfen, war alles anders. Trotzdem bevorzugte sie es, sich keine Gedanken über das wie und was zu machen, für ihre momentane Situation spielte das sowieso keine Rolle. Zuvor war sie von Ort zu Ort gereist, um kleine, unauffällige Unfälle für Staatsfeinde zu inszenieren und nun war sie selbst der Staatsfeind und versuchte, nie lange auf einer Welt zu verweilen, denn wahrscheinlich war ihr Nachfolger auf ihren Fersen. Ihre einzige Option war, stets in Bewegung zu bleiben und dabei möglichst wenig aufzufallen. Idealerweise heuerte sie auf irgendeinem heruntergekommenen Frachter an, der ebenso heruntergekommene Planeten anflog.
Sie nahm einen letzten Schluck und rief dem Barkeeper zu: „Hey, noch so einen Fusel, das macht die Katzenmusik erträglicher!“
Er gab ihr ein bestätigendes Handzeichen und Lucy schaute sich in der Gaststätte nach einer passenden Sternenschiff-Crew um, als ihr jemand auf die Schulter tippte. Erschrocken fuhr sie herum und sah sich dem Hünen gegenüber, der bis eben das Lokal mit seinen zweifelhaften Singkünsten beschallt hallte. „Was hast du da gesagt?“
„Hey, ich will keine Probleme …“, setzte sie an. Der offensichtlich angetrunkene Bursche holte zu einem Hieb aus und Lucys trainierte Reflexe übernahmen die Kontrolle. Sie duckte sich derart flink weg, dass die Faust des Riesen einen anderen zwielichtigen Kerl ins Gesicht traf. „Ups“, lallte der gescheiterte Karaokesänger, da brüllte ihn sein versehentliches Opfer an: „Sag mal, hast du sie noch alle?“
Hastig zog sich Lucy einige Schritte zurück. Selbstverständlich wäre sie in der Lage, den stärkeren Gegner zu Boden zu bringen, dennoch war es ratsamer, Konflikte zu vermeiden; erst recht, wenn man nicht auffallen sollte. Während die beiden Kontrahenten aufeinander einprügelten und die Aufmerksamkeit auf sich zogen, ging sie in Richtung des Ausgangs, wurde jedoch von einer rauen, weiblichen Stimme aufgehalten: „Hey, Narbengesicht!“
Rasch drehte sie sich um und blickte auf eine dunkelhäutige Frau, die wie eine Raumfahrerin gekleidet war. „Was?“, knurrte Lucy, erpicht darauf, aus der Bar zu verschwinden, ehe die Keilerei ausartete.
„Du bist schnell. Kennst du dich mit Sternenschiffen aus?“
„Ein bisschen“, erwiderte Lucy und beobachtete den einige Meter entfernten Tumult, in den mittlerweile sechs Leute verwickelt waren. „Wer bist du und wieso willst du das wissen?“
„Natala“, stellte sich die Fremde mit dem Afro vor und bot ihr die Hand an. „Ich habe einen Frachter und bin auf der Suche nach einem ersten Maat.“
„Lucy.“ Sie schlug ein. „Können wir das bitte draußen besprechen, bevor wir in die Schlägerei verwickelt werden?“
„Klar, ich kenne da eine Bar in der Gegend, in der die Musik annehmbarer ist.“ Damit trottete Natala davon und Lucy folgte ihr die Stufen hoch auf die Straße. Wenn sie Glück hatte, wäre sie bald weg von hier und hätte einen halbwegs vernünftigen Job; vermutlich das Beste, auf das sie angesichts ihrer Vergangenheit hoffen konnte. Sie war sich zwar unsicher, ob sie auf ihren Verfolgern tatsächlich entkäme, aber vorerst wog sie sich in Sicherheit. Vielleicht, nur vielleicht, gab es sogar für ehemalige Profikiller sowas wie ungefährlicher Ruhestand.