„Sie ist brillant, nicht wahr?”, fragt er mich ohne eine Antwort zu erwarten, dreht sich einmal mit ausgestreckten Armen um die eigene Achse und murmelt: „So sexy!“
Da ist etwas Kindisches in seinen Augen, doch die Trauer vermag es nicht zu überstrahlen. Wann immer er meine Aufmerksamkeit nicht auf sich gerichtet glaubt, schimmert sie in Farben, die ich nicht kenne und doch scheint sie mir vertraut; die Trauer, die man in wenigen Augenblicken sammelt und die Jahrhunderte anhält.
„Grösser als ich mir vorgestellt habe“, flüstere ich meinem Charakter entsprechend, obschon mir heute nicht danach zumute ist. Etwas hindert mich daran zu vergessen, wer ich bin, was ich erlebt habe. Hier drin ist die Befreiung in vollem Gange und ich reise mit dem Mann ohne Alter und Verdruss durch Zeit und Raum. Im wahren Leben jedoch bin ich Emilia, die noch immer darauf wartet, von einem Wahnsinnigen aus der schnöden Alltäglichkeit gerettet zu werden.
„Wohin darf ich die Dame entführen?“ Er wirkt kleiner als sonst, als er neben der Mittelkonsole seiner T.A.R.D.I.S. steht, bereit, wahllos einige Knöpfe zu drücken, sobald ich eine Destination nenne. Ich tue ihm den Gefallen und versuche seinen überschäumenden Enthusiasmus für dieses unschuldige Spiel einzusaugen.
„Neunzehnsiebenunddreißig“, beginne ich mit einem erzwungenen Lächeln, in der Hoffnung, mein Körper würde seine zweifelhafte Wahrhaftigkeit billigen. „Zur Eröffnung der Golden Gate Bridge.“ Und kaum habe ich das gesagt, wirbelt er herum und bedient das Schaltpult mit den Soundeffekten.
Das typisch keuchend-ächzende „Vworp vworp“-Geräusch verklingt allmählich und mein Doktor rennt aufgeregt zur blauen Tür. Einmal geöffnet, wird die Sicht auf ein wolkenverhangenes San Francisco frei, das noch nichts von dem Horror weiß, welcher in zwei Jahren auf die Soldaten ihrer Nation zukommen würde.
„Wir kommen gerade rechtzeitig“, grinst er und klopft liebevoll auf den Holzrahmen seiner Zeitmaschine. Wir stehen auf der vierten von sechs Fahrspuren und abgesehen von einer weit entfernten Fahrzeugkolonne ist kein einziger Mensch zu sehen. Erst bin ich etwas beunruhigt, weiß nicht, ob die Brücke schon sicher ist, doch ehe ich weiter darüber nachdenken kann, zupft er an meinem Hemdärmel und deutet an den nebligen Horizont.
„Ist das nicht fantastisch?“ Ein dunkler Streifen wird sichtbar und langsam aber stetig bewegt er sich auf uns zu. „Komm!“ Mit einem beherzten Ruck zieht er mich nach draußen und springt in großen Sätzen um die T.A.R.D.I.S. herum. Ich ziere mich und lasse meine Blicke nervös zwischen den verschwommenen Menschenmaßen hin- und her schnellen, die sich von beiden Seiten in unsere Richtung bewegen.
„Was ist, wenn sie uns sehen?“, will ich schlussendlich wissen und ich kann zusehen, wie sein Lächeln liebevoll neckische Züge annimmt.
„Wahrnehmungs-Filter“, erklärt mein Doktor ungewöhnlich knapp. „Ein befreundeter Kapitän hat mir das Ding ausgeliehen.“ Der Spott weicht der Wehmut, die ihn immer zu plagen scheint, wenn er von seinem unsterblichen Freund spricht. Dann, als die Maßen nahe genug sind, um sie als Ansammlung von schick gekleideten Individuen zu erkennen, fügt er mit zusammengekniffenen Augen hinzu: „Der Angeber würde perfekt in diese Zeit passen, alleine wegen seinem lächerlichen Mantel.“
Ich wickle meinen Pferdeschwanz um den Haargummi und verkneife mir den Kommentar zum braunen Staubmantel des Doktoren. Wir stehen genau in der Mitte der nach frischer Farbe riechenden Brücke und können nun beobachten, wie sich die Menschen zuwinken und sich jubelnd begrüßen. Nach und nach vermischen sich die Fronten und werden zu einer und wir sind im Zentrum der Überschwänglichkeit, feiern mit den Fremden die Vereinigung derer, die schon immer zusammengehört haben.
Das Interesse an den fröhlich vorbeiziehenden Passanten und den wunderhübschen Autos der Vorkriegszeit hatte nicht lange angehalten. Bald schon hatten wir alles gesagt, was es über diese Szene zu sagen gab und mir stand nicht der Sinn nach einer Dalek-Invasion auf der Golden Gate Bridge. Also sind wir wieder zurück über die Sperrholzschwelle ins Innere der Polizeibox gegangen, wo er mit weiteren Soundeffekten unsere Abreise symbolisierte. Die Knöpfe und Leisten in seiner Raum- und Zeitmaschine blinkten wirr durcheinander; ob er sich beim Zusammenbauen wohl überlegt hat, welche imaginären Funktionen die LED-Leuchten haben?
„Doktor“, hole ich aus und halte tapfer mein Lächeln über dem turbulenten Wasser der Schwermut, „wollen wir uns heute nicht etwas ausruhen?“ Er hält inne, wendet sich mir jedoch nicht zu, sondern bleibt mit hängenden Schultern vor der Konsole stehen. Ich habe ihn aus dem Konzept gebracht und hoffe, ihn vollends aus seiner Fantasie reißen zu können. Das ist ganz und gar nicht meine Art, will ich doch auch nichts lieber tun, als meinem tristen Dasein etwas Realitätsflucht schenken. Heute jedoch ist über Nacht alles anders geworden.
„Wir könnten die Bibliothek besuchen und Schatten zählen. Oder wohin auch immer du willst.“ Er tippte wieder hektisch auf den Knöpfen, deren einzige Aufgabe es war, seiner Vorstellungskraft ein Zuhause zu geben und kicherte: „Hast du deine Laufschuhe dabei? Gerannt wird schließlich immer!“
„Weißt du“, höre ich mich sagen und will gerade irgendeine längst vergessene Epoche auf einem imaginären Planeten erfinden, als die Lösung mich trifft wie Maschinengewehr-Feuer. Zielstrebig marschiere ich zur Konsole und schiebe ihn beiseite. „Lass mich das machen!“
Er hatte sich gewehrt und gesagt, seine T.A.R.D.I.S. würde mich nicht fliegen lassen, doch ich blieb stur, betätigte die Soundanlage und rüttelte angespannt am Sperrholz. Ich bin des Wartens überdrüssig geworden, will dem Schrecken endlich gegenübertreten, ihn nicht bekämpfen, sondern willkommen heißen.
„Tu das nicht, nein ernsthaft, tu das nicht!“, bettelt er feixend, während ich langsam zur Ruhe komme und mit schweren Schritten zur Tür gehe. Zu gerne hätte ich jetzt ein Glas Wodka gehabt, das mir die Illusion von Mut erleichtert, doch in der Welt des Doktoren gibt es keine Trunkenheit ohne 3D-Brillen, also muss mein Frust als Motivation ausreichen.
„Wo sind wir?“, fragt er skeptisch und legt seine Stirn in Falten. Ich öffne die Tür, strecke mich und lege meinen Arm um seine schmalen Schultern, dann hole ich tief Luft und sage: „Warteraum des Spitals, vor drei Wochen.“ Er zuckt zusammen und will sich wegdrehen, schleunigst in eine andere Zeit verschwinden; egal wohin, bloß weg von hier. Aber ich halte ihn fest, fixiere seine panischen Augen und lächle melancholisch, ehe ich zur Konsole sprinte. Das Holt kracht fürchterlich, als ich seinen Fluchtweg durch den Vortex mit einem kräftigen Schlag zerstöre. Die Lichter hören auf zu blinken und mit ihnen stirbt die Macht seiner selbstgezimmerten T.A.R.D.I.S..
„Nein!“ Sein Rufen verhallt unscheinbar in seiner kleinen Wohnung, wird von all den Fanartikeln verschluckt, die ihm in den letzten Jahren Halt gegeben haben. Er blinzelt unentwegt und wünscht sich wohl einen Engel, der ihn in Stücke zerfetzt, nur um dem einen Anblick zu entgehen, den er nicht ertragen kann. „Wieso hast du das getan?“
„Weil es Zeit ist, dass der Doktor ins Spital geht“, erkläre ich stoisch und lege wieder meinen Arm um seine zitternde Gestalt. „Die Zeit mag ein Ball aus wibbly wobbly timey wimey Zeugs sein, aber du kannst nicht länger die strikte Folge von Ursache zu Wirkung verleugnen.“ Er schluckt leer und schließt die Augen. In Momenten wie diesen wird mir erst richtig bewusst, wie dürr er geworden ist, so als wäre alles Fett einfach so aus seinem Körper spaziert.
„Es hat ohnehin keinen Zweck“, beginnt er heiser, doch ich lasse ihn nicht weitersprechen, nicht dieses Mal.
„Das weißt du nicht, wenn du es nicht probierst.“ Ich weiß, dass ich Recht habe, doch ich kann die Bilder meiner Mutter nicht verdrängen, wie sie kämpfend und sich wehrend verwelkte. Sie hatte alles getan, was getan werden konnte, hatte bis zum letzten Atemzug daran geglaubt, dass ein wundersamer Doktor auftauchen und sie heilen würde. Der Doktor kam nicht und während sie weiter hoffte und bangte, habe ich bloß auf das Ende gewartet.
„Sieh sie dir an“, brülle ich aus vollen Lungen und deute auf die leere Stelle vor der Requisitentür, dort wo ich das Phantom meine Mutter liegen sehe. „Sie würde nicht wollen, dass du das einfach so hinnimmst, sie wollte, dass du dem Tod die Stirn bietest!“ Ohne ein Wort zu sagen geht er in die Hocke und beginnt zu wimmern. Doch als ich zu ihm gehen und ihm mit der flachen Hand über seinen knochigen Rücken streichen will, richtet er sich auf und schreitet an mir vorbei.
„Bitte verzeih mir, Mama“, höre ich ihn flüstern und stehe wie angewurzelt da, als mein Bruder das Fantasiebild unserer Mutter umarmt. In seinen Gedanken scheint sie all die Schläuche, die wie ein mächtiger Rüssel aus ihrem Schlund ragten, nicht zu haben, denn er hält ihr Gesicht ganz nah an seines. Es ist wie eine verdrehte Pieta, der Sohn, der seine tote Mutter hält und nicht weiß, ob er ihr folgen soll.
„Ich will nicht so gehen wie sie“, meint er nach einer Weile, legt unsere Mutter zurück auf das imaginäre Bett und kehrt zurück in seine eigene Welt, in welcher er mehr als ein Leben hat. „Ich weiß, dass du bereit bist, auf meinen Tod zu warten, aber ich will dieses Leid nicht aushalten müssen. Ich kann es nicht, auch nicht für dich.“
„Okay“, höre ich meine mechanische Stimme und akzeptiere, dass mein Warten morgen früh für immer vorüber sein wird, wenn mein Bruder durch seine eigene Hand stirbt.