Hallo lieber Erdenbewohner, Zeitgenosse und Genießer der noch jungen Dreizehn.
wenn du dies liest, dann wird das Jahr 2012 hinter dir liegen; vielleicht trauerst du ihm in Gedanken noch nach, vielleicht bist du froh es abgeschlossen zu haben und vielleicht hast du es bereits vergessen. Doch egal welches Jahr, welche Dekade oder welches Jahrhundert wir beenden, jedes Mal wenn wir die Schwelle zu einem neuen Zeitabschnitt überschreiten, treffen wir auf den kurzen Moment, der uns gleichermaßen hoffnungsvoll wie auch angsterfüllt für einen Atemzug innehalten lässt. Manche von uns mögen es für unsinnig halten, die von Menschenhirn festgelegten Zeitbarrieren ernst zu nehmen, andere hingegen sehen in ihnen einen symbolischen Wert, der uns pünktlich zum Jahresende zur Reflexion zwingt und uns daran erinnert, dass wir alle in einer Zeitmaschine sitzen, die uns jede Stunde um genau eine Stunde in die Zukunft führt.
Doch egal wie wir diesem unnatürlich erscheinenden Zeitsprung über die Jahresgrenze gegenüber stehen, wir sollten diesen einen Moment der Realisation zu schätzen wissen und ihn nicht ungenutzt vorbeiziehen lassen.
Es gibt viele Metaphern für das Leben und die Zeit, die wir hier auf diesem Planeten verbringen – wahrscheinlich zu viele, so dass sie uns oft wie leere Floskeln vorkommen, die uns von wohlwollenden Zeitgenossen entgegengeworfen werden. Trotzdem erinnere ich mich gerne an die Worte meiner Großmutter, die sie mir während meiner Teenagerjahre gebetsmühleartig vorgesagt hatte und die ab und an wie ein altes Neonschild in meinen Gedanken aufflackern: „Das Leben ist wie ein See und wir alle sitzen in kleinen Booten darauf.“
Ich war damals vom fatalistischen Charakter dieser Denkweise überwältigt. Wir sitzen also in unseren Rettungsbooten, stehen still und warten darauf, dass wir von der Strömung weiter getrieben werden, hoffentlich in die Richtung, die uns unseren Zielen näherbringt. Was für eine deprimierende Idee von einem Körper in Katatonie, erstarrt bei vollständigem Bewusstsein und manchmal, da scheint es tatsächlich so zu sein. Wir werden immer wieder mit Situationen konfrontiert, die zu ändern uns unmöglich ist und es geschehen Dinge, die außerhalb unseres Einflussbereichs stehen, die ohne unser Zutun unser Leben verändern und deren scheinbare Willkür so frustrierend und niederschmetternd scheinen kann, dass wir uns nur zu gerne in einen Strudel aus Selbstmitleid mitreißen und unser Boot auf Grund auflaufen lassen. Selbstmitleid kann uns an einen wahrlich gemütlichen, bequemen Ort bringen, einen Ort, an dem uns keine Schuld trifft und wir keine Verantwortung tragen müssen, der jedoch auch mit Tücke zum einsamen Stillstand zwingt.
Deswegen, weil die Vorstellung vom gestrandeten Boot einfach zu schwer und endgültig erschien, war ich irgendwann auch zögernd dazu bereit, das breite Spektrum an potentiellem Handlungsspielraum in diesem Szenario zu erkennen. Wir haben während jeder wachen Sekunde unseres Daseins die Möglichkeit, eifrig auf unsere Ziele hin zu rudern, und je eher wir uns aus unserem Boot wagen und Schwimmen lernen, desto besser können wir diejenigen Probleme lösen, die uns früher oder später kentern werden – und glaubt mir, das wird mit Sicherheit geschehen. Während all der Zeit, die vergeht, haben wir also die Chance unsere Nussschale wie ein wahrer Kapitän zu führen und uns weder der Flaute noch dem Sturm hinzugeben, wie ein Pirat auf unser eigenes Wohl hinzuarbeiten oder wie ein Matrose für ein Kollektiv zu stehen.
Da sind wir also, in unseren kleinen Rettungsbooten, hin und her getrieben zwischen engagierter Aktion und frustrierter Reaktion und während wir im einen Moment ob der erbarmungslosen Strömung und den zu vielfältig vorhandenen Möglichkeiten verzweifeln, sprühen wir im nächsten Augenblick vor Tatendrang und treiben hoffnungsvoll unentwegt vorwärts.
Doch diese Metapher bietet eine weitere Option, eine an die wir in der Regel viel zu selten denken. Es gibt nicht nur Stillstand und Aktion, nein; ganz so wie wir manchmal willkürlich vorangetrieben werden, können wir uns auch aktiv zum Stillstand entscheiden und genau das ist es, was der Beginn eines neuen Jahres mit uns macht. Wir sehen die künstliche Schwelle, rutschen hinüber und rudern gemächlich zum Seeufer.
Wenn wir dort am Rand des Sees sitzen, träge von den Festtagen die Beine ausstreckend, können wir, reflektiert vom Wasser, die Zusammenfassung unseres Lebens sehen. Ob uns das, was wir ausgebreitet vor uns sehen nun gefällt oder nicht, liegt schlussendlich alleine an uns; eine Realisation die mitunter schmerzlich aber auch beschwingend sein kann und die uns nicht selten dazu verleitet, enthusiastische, jedoch ebenso halbherzige Vorsätze zu fassen, die uns exakt in einem Jahr erneut frustrieren.
Ich befinde mich nun in der außerordentlich seltenen Lage, dass ich diejenigen Vorsätze, welche ich mir vor zwei Jahren, geplagt von Koliken und Gelbsucht, gemacht hatte, nun tatsächlich erreicht habe und dennoch wage ich zu bezweifeln, dass unsere erzwungenen Neujahrsvorsätze die richtige Taktik zur Veränderung bieten.
Jedes Mal wenn wir eine unserer künstlichen Zeitschwellen überspringen, glauben wir uns verändern zu müssen, oder vielmehr glauben wir, dass wir das glauben müssen und genau deshalb scheitern wir immer und immer wieder. Denn ein Vorsatz, der am Seeufer von einem betrunkenen Seemann zu Silvester gemacht wurde, wird selten zu einem Plan, der in unserem Boot auch tatsächlich funktioniert, sondern bleibt die benebelte Vorstellung davon, was wir zu sein wollen glauben. Wieso also sollte man den kurzen Augenblick, der einem bleibt, bevor das neue Jahr wieder zur Gegenwart wird und den Reiz der Zukunft verliert, damit verschwenden, sich mit eisernem Extremismus Dinge vorzunehmen, die einem selbst nicht wichtig genug sind, um sie tatsächlich mit ins Boot zu nehmen, anstelle davon, sich auszuruhen, die Reflektion im Wasser zu studieren und sich für die Weiterfahrt zu stärken?
Wieder war es meine Großmutter, die mir die Zeit an meinem Seeufer erleichterte als sie sagte: „Mach dir keine Vorsätze, sondern tue was du tun willst und musst und lass die anderen Dinge ziehen!“ Und so, meine geschätzten Freunde, wird man Kapitän.