Diese Story ist auch als Hörgeschichte erschienen.
„Guten Abend werte Frau Esther.“ Statt mich anzusehen, nickt die Dame mit gesenktem Blick und steigt in mein winziges Reich. Ein Meter vierzig auf einen Meter sechzig misst die Fläche, die ich fünf Tage die Woche bewache, als wäre sie ein heiliger Tempel – irgendwie ist er das wohl, mein Fahrstuhl. „Die Acht?“, stelle ich die rhetorische Frage, so wie ich das immer mache, wenn Frau Esther Goldbaum vom Dinner mit ihrem Sohn Jakob heimkehrt.
„Natürlich, die Acht.“ Die Fältchen um ihren Mund sind tiefer, ihre Augenbrauen und Wimpern dünner geworden, dennoch bleibt ihre Schönheit unverkennbar. Wenig verwunderlich, war sie nie lange eine gutbetuchte Witwe geblieben – kaum hatte sie den einen Ehemann zu Grabe getragen, transportierte ich schon den nächsten zu ihr hoch in den achten Stock. Nun scheint ihr das allerdings zu anstrengend geworden und sie gibt sich mit der Gesellschaft ihres kleinen Hundes zufrieden. „Herzlichsten Dank, Lucien.“
„Für Sie stets gerne“, entgegne ich lächelnd, drücke den abgegriffenen Messingknopf und genieße das Ruckeln, als der Aufzug in Bewegung kommt. Ja, ich schätze diesen Moment jedes Mal, egal, wie oft ich ihn bereits erlebt habe, noch erleben werde.
„Behandelt Sie das Leben ordentlich, mein Guter?“ Wie Frau Goldbaum hatte auch das Hotel seinen Charme und Liebreiz mitnichten an das Alter verloren. Sicher, der Lack war an vielen Stellen gerissen, die Fassade bröckelte und nirgends gab es eine Leiste ohne Dellen, eine Wand ohne Kratzer oder einen Portier ohne graues Haar. Die einzig nennenswerte Neuerung war das Gäste-W-Lan, das gerademal von der Lobby bis zur Bar reichte.
„Das tut es, Frau Esther, im Solar Soleil gibt es kein Grund zur Klage“, antworte ich schmunzelnd die prächtig gesteckte Frisur der Dame begutachtend, die zweifelsohne den Künsten von Monique aus dem Salon in der vierzehnten Straße zu verdanken ist.
„Da haben Sie freilich recht, Lucien, das Solar Soleil gibt niemandem Grund zur Klage.“ Wer hier wohnt, will keinen modernen Komfort, ganz im Gegenteil. Wer über die flachgelaufene Schwelle geht, über den burgunderroten Perser mit den hervorlugenden Kettfäden zum Empfangspult marschiert, sehnt sich ins vorletzte Jahrhundert zurück. Exakt das macht das Solar Soleil aus und genauso wie mein geliebter Fahrstuhl gehöre auch ich zum Inventar des einst berühmten Hotels – gemeinsam sind wir eine Hommage an eine längst vergessene Ära.
„Wir sind da, Gnädigste“, verkünde ich das Offensichtliche, Sekundenbruchteile später ertönt die Glocke und ich öffne Frau Esther Goldbaum die Tür. „Ich wünsche Ihnen eine geruhsame Nacht.“
„Sie sind zu freundlich, Lucien. Das wünsche ich Ihnen ebenfalls.“
„Wir sehen uns morgen.“ Ihre Routine ist jeden Tag dieselbe – um Sieben verlässt sie mit ihrem weißen Pekinesen das Hotel, spaziert durch den Park, trifft sich zum Brunch mit ihren Freundinnen und entspannt sich anschließend in ihrem Zimmer bis zum Dinner mit Jakob Goldbaum, der nach dem Tod seines Vaters bei Schuster, Goldbaum und Leim den Ton angibt.
„Ja, Mimi muss um Sieben raus“, erklärt sie mir, was ich schon weiß, stöckelt hinaus, verschwindet im schummrigen Licht des Flurs und flötet: „Gute Nacht, Lucien, gute Nacht.“
Die gusseiserne Schranke gleitet zu, da höre ich Mister Mirkovics Zimmertür und halte den Lift für ihn. Anders als Frau Esther schaut er mich beim Zusteigen direkt an und erwidert meinen Gruß mit einem höflichen Grinsen.
„Sie sind spät unterwegs, Mister Mirkovic“, bemerke ich nebenher und bediene den Schalter für die Direktfahrt in die Lobby.
„Ach, Lucien, Ihnen entgeht wirklich gar nichts“, meint der hochgewachsene Mann und klopft mir schmunzelnd auf die Schulter. „Sie hätten Detektiv werden können.“
„Sie und Ihre Scherze“, gluckse ich vor mich hin, der Aufzug holpert und beginnt seine Fahrt ins Erdgeschoss.
„Nehmen Sie es mir nicht übel, Lucien, ich erlaube mir gerne einen Spaß.“
„Ich weiß, Mister Mirkovic.“ So lange wie ich im Solar Soleil als Aufzugführer arbeite, kenn ich die Macken meiner Gäste selbstverständlich – Frau Esther, wohlhabend liiert, vermeidet Augenkontakt, Herr Sturzenegger, alleinstehender Bankier, pfeift im Fahrstuhl Lieder von den Beatles, Lord Ashton, Schande des Königshauses, kaut geräuschvoll Fruchtgummis und Mister Mirkovic, Geheimdienstagent im Ruhestand, nimmt mich gerne ein wenig auf die Schippe, als wäre ich einer seiner Saufkumpane. „Das weiß ich“, beschwichtige ich sein Gewissen weiter.
„Sie sind ein prima Kerl, Lucien, ein …“ Die Kabine kommt ins Stottern, die Kabel und Federn quietschen ohrenbetäubend und nach einem heftigen Krachen bleiben wir abrupt stehen. „Du meine Güte“, ruft Mirkovic erschrocken. „Das war aber ein heftiger Rums. Lucien, sind Sie in Ordnung?“
„Keine Sorge, nichts passiert“, beruhige ich ihn und vergewissere mich, dass auch er sich nicht verletzt hat, dann gestikuliere ich zum Telefon unterhalb der Knopfleiste. „Wird ein technischer Defekt sein, ich fordere Hilfe an.“
„Tun Sie das, Lucien, tun Sie das.“ Wieder völlig entspannt stützt er sich auf den Handlauf und lehnt sich gegen die tapezierte Kabinenwand, während ich den Hörer abnehme, doch noch bevor ich den Notrufknopf betätigen kann, dröhnt eine blecherne Ansage durch den Lautsprecher:
„Der Memory-Stick ist im Wald.“
Ein Brummen schwappt in mir hoch, mir wir übel, der Boden unter mir bewegt sich plötzlich.
„Mister Mirko… Miste…“, stammle ich. Irgendetwas geschieht mit mir, ich kann es nicht aufhalten.
„Der Memory-Stick ist im Wald.“ Ein warmes, nein, heißes Stechen zieht von meinem rechten ins linke Ohr, zerschneidet meine Gedanken. Mister Mirkovics Gesichtszüge entgleiten ihm, er wuchtet seinen Leib nach vorne, packt mich am Kragen und presst mich mit seinem ganzen Gewicht gegen die Aufzugstür.
„Scheiße! Lucien, hören Sie nicht hin!“
„Der Memory-Stick ist im Wald.“
„Mister Mir… Was, was ist…“ Die Welt um mich versinkt in einem unerklärlichen Stroboskopgewitter – mal habe ich größte Mühe, Hell von Dunkel zu unterscheiden, ist von meinem Gegenüber kaum ein Umriss übrig, mal wird mein Verstand regelrecht von kristallklaren Details überflutet.
„Lucien, hören Sie nicht hin, Lucien, bitte!“, brüllt er mich an, seine Nüstern gebläht, Schweiß perlt auf seiner Stirn. „Lucien, oh bitte! Bitte, Sie dürfen nicht hinhör…“
Das Brummen wird lauter, verschluckt sein Schreien und Flehen, klar bleiben einzig die Worte aus dem Lautsprecher: „Der Memory-Stick ist im Wald.“
Geführt von einer fremden Macht schnellt mein Ellenbogen vor, rammt sich in Mirkovics Kehle, er taumelt rückwärts. Da fokussiert sich meine Aufmerksamkeit auf einen rot glühenden Punkt hinter seinem Kopf. Meine Faust ballt sich bis die Knöchel schmerzen und schießt geradezu durch den Schädel des anderen hindurch, berührt schließlich das eingebildete Ziel dahinter. Mister Mirkovic bricht zusammen, sackt auf den Boden und zuckt unter Schmerzen. Ich möchte ihm helfen, ihm die Hand reichen, stattdessen fühle ich, wie sich meine Oberschenkelmuskulatur anspannt.
„Der Memory-Stick ist im Wald.“ Mein Magen dreht sich, der Geschmack von Galle verätzt meinen Rachen. Chancenlos, die Tragödie in ihrem Lauf zu stoppen, heule ich auf – ich will es nicht tun! Ein kurzer Schritt, ich springe hoch und trete mit der Hake meines italienischen Halbschuhs zu, bis der Knochen unter seiner Schläfe nachgibt, mein blutverschmierter Fuß sich endlich zufriedengibt.
„Der Memory-Stick ist im Meer“, verkündet die Ansage und ich kann mich fangen, erlange wieder die Kontrolle über meine Gliedmaßen, meine Stimme und ich kreische: „Mister Mirkovic, oh Gott, was habe ich getan?“