Addison stolperte beinahe als sie über die Schwelle ins Teehaus trat. „Scheiße“, zischte sie durch ihre zusammengebissenen Zähne und hielt sich im letzten Augenblick am Türrahmen fest. Der auf dem Boden herumliegende Mörtel und die umgekippten Stühle machten ihren Gang durch das Lokal zu einem Hindernisparcours, der dank ihrem verletzten Bein auch nicht einfacher zu bewältigen war. Connor, der keinen Meter hinter ihr herging, fragte beunruhigt: „Alles okay?“
„Nein, verflucht, jemand hat mir ins Bein geschossen! Glaubst du denn, dass ich voller Übermut herumrenne?“, gab sie zurück. Im nächsten Augenblick bereute sie, ihren Weggefährten angefahren zu haben und fügte hinzu: „Sorry. Schauen wir, ob wir irgendwo Verbandsmaterial finden können.“
„Okay“, murmelte Connor und versuchte die Kameradin so gut es ging zu stützen, während die beiden sich einen Weg durch die Trümmer auf dem Boden und durch die zerbrochenen Fenster hereinwachsenden Ranken bahnten. Sie wusste Connor wirklich zu schätzen, er war gut trainiert und stur, ein wahrer Kämpfer. Und das, obwohl er angeblich früher, vor der Seuche, als Designer gearbeitet hatte – andererseits hatte Addison die Modebranche schon immer für ein Geschäft voller rabiater Halsabschneider gehalten. Addison wusste auch, dass sie im Gegensatz zu ihm wesentlich weniger hilfreich war, sie war zwar praktisch begabt und konnte gut schießen, doch mit einer Schusswunde im Bein kam man in dieser Welt einfach nicht schnell genug voran und das sichere Lager war noch einige Meilen entfernt. Ob sie es noch schaffen würden, war fraglich.
„So, da sind wir“, erklärte Connor, der bei der Theke hinten im Raum angelangt war und sich nach unten beugte. „Normalerweise hatten Gaststätten immer ein Erste-Hilfe-Koffer irgendwo und wenn noch etwas da ist, solltest du damit einen provisorischen Verband machen können.“ Addison wusste, dass fünf Jahre nach der Seuche, welche einen Großteil der Menschheit dahingerafft hatte, viele Orte in der Stadt geplündert worden waren. Sie rechnete nicht wirklich damit, dass Connor etwas finden würde, es war einfach zu unwahrscheinlich. „Jackpot!“, rief er in diesem Augenblick begeistert und hob einen staubigen grünen Koffer hoch, der noch unberührt schien. Addison hatte das Gefühl, etwas aufatmen zu können – vielleicht würde sie den nächsten Morgen noch erleben, vielleicht gar eines fernen Tages den Geruch von gebratenem Speck beim Aufwachen genießen, so wie früher. Vorsichtig setzte sie sich auf einen der wenigen noch ganzen hölzernen Stühle und bereitete sich geistig darauf vor, ihr rudimentäres medizinisches Wissen zum ersten Mal in der Praxis anwenden zu müssen. Connor hatte einen Drehstuhl aus dem kleinen Büroraum herangezogen, der an die Gaststube des Teehauses grenzte und ihn so hingestellt, dass sie ihr Bein abstützen konnte, bevor er den Erste-Hilfe-Koffer aufmachte. Ihnen blieb nicht viel Zeit, weswegen sie gleich loslegte und in den Koffer griff, aus Angst sie würde sonst zögern.
„Okay, das sollte bis zum Camp reichen“, erklärte Addison. Die Wunde an ihrem Bein blutete nicht mehr und schien zumindest vorerst keine Gefahr mehr darzustellen. „Wir können zurück zum Jeep.“
Connor, der gerade mit dem Mediset geschäftig gewesen war, erhob sich plötzlich und zog seine alte Neun-Millimeter-Pistole. „Hast du das gehört?“
Sie verstummte sofort und schüttelte dann den Kopf. Sie hätten weiterfahren sollen, dachte Addison unmittelbar. Wahrscheinlich wäre sie auf dem Weg zum Fort nicht verblutet und sonst wäre wenigstens Connor mit dem Leben davongekommen. Gestresst fuhr sie sich mit der Hand durchs Haar, während sie angestrengt lauschte und hielt dann ein einzelnes Perückenhaar in den Fingern. Beinahe hätte sie trocken gelacht, denn als sie die Krankheit überlebt und besiegt hatte, hätte sie sich nie träumen lassen, ein paar Jahre später in ihren früheren Lieblingsteehaus von auf Rache sinnenden Jägern erschossen zu werden. Wenigstens konnte sie noch die Ironie darin erkennen, zuckte es ihr durch den Kopf, dann konnte sie es auch hören: Ein Ästchen, vielleicht eine ausgedörrte Ranke, knackte irgendwo auf der verwaisten Straße, so als ob jemand draufgetreten wäre. Sie sah zu Connor hinüber und flüsterte dann, so leise sie konnte: „Zum Jeep oder in Deckung?“
Er nickte in Richtung der Theke und sie erhob sich und humpelte ihm möglichst geräuschlos hinterher. Das Desaster hätte eigentlich ein ganz normaler Versorgungstrip werden sollen, einmal mit dem Jeep in die Stadt und alles Essbare einsammeln, was sich in den paar großen Lagerhäusern noch fand, die von den Plünderern nicht leergeräumt worden waren. Addison war nicht besonders oft in der Stadt gewesen, seit sie verlassen worden war, weshalb sie zusammen mit Connor gegangen war, um etwas zu lernen. Doch niemand von ihnen hätte erwartet, dass sie so weit weg von den Hügeln auf Menschenjäger treffen würden. Sie atmete möglichst flach und setzte sich neben Connor auf den Boden. Die hereinbrechende Dunkelheit tauchte das Teehaus in ein Zwielicht, das ihnen die Sicht erschwerte, also blieb sie einfach unten und lauschte. Sie glaubte, ihren eigenen Puls in den Schläfen zu fühlen, während sie möglichst leise ihre Waffe zog und entsicherte. Obwohl sie erwartet hatte, dass sie zittern würde waren ihre Hände ganz ruhig, offenbar war sie in Krisensituationen doch zu etwas gut. Sie schaute zu ihrem Begleiter, den sie in der Dämmerung gerade noch so erkennen konnte und deutete dann auf die Waffe. Er hob vier Finger und ihre Hoffnung sank, denn sie hatte nur noch drei Schüsse und wenn die Leute draußen dieselben waren, mit denen sie vor einer Stunde eine Schießerei gehabt hatten, dann mussten sie mit fünf gut bewaffneten Gegnern rechnen. Addison wusste nicht, ob die Jäger nur hinter ihren Lebensmitteln her waren oder auch für ihre Verletzten in der vorherigen Schießerei Rache nehmen wollten. Doch es war gemeinhin bekannt, dass die gewalttätigeren unter den herumziehenden Menschen alles erschossen und kochten, was ihnen vor die Flinte kam. Im Augenblick war ihre beste Hoffnung zu überleben, dass ihre Verfolger einfach den Jeep stehlen und davonfahren würden doch irgendwie hatte sie nicht das Gefühl, dass sie so einfach davonkommen würden.
Plötzlich realisierte sie, dass sie den Drehstuhl, auf dem sie ihr Bein beim Verarzten abgestützt hatte, mitten im Raum hatten stehen lassen. Zusammen mit ihrem noch frischen Blut und dem Wagen vor der Tür war das eine mehr als nur verräterische Spur. „Hey“, konnte sie just in diesem Augenblick von draußen eine tiefe Stimme rufen hören und fuhr zusammen. „Die sind noch da drin!“
Für einen Moment herrschte Stille und Addison warf Connor einen fragenden Blick zu. Er schüttelte den Kopf, es war besser, wenn sie still blieben und abwarteten. Sie spannte ihre Muskeln an und glaubte, dass sich in den nächsten Sekunden ihr Schicksal entscheiden würde, also dachte sie an ihr früheres Leben zurück, an die Zeit, in der ihre Welt noch nicht von Chaos geprägt gewesen war. Ein lauter Knall ließ sie zusammenfahren und sie konnte Verputz fühlen, der von der Rückwand auf sie herunterrieselte. Ihr Herz raste, als sie denselben Mann wie zuvor in einer beinahe singenden Stimme rufen hören konnte: „Kommt raus, kommt raus, wo auch immer ihr seid …“