„Status?“, erkundigte sich Jack, sich auf der Bank im Wartebereich umsehend. Seine ruhige, nahezu gelassene Stimme und Haltung bildeten einen starken Kontrast zum hektischen Treiben in der Notaufnahme. Ethan schaute von seinem Handy auf: „Bislang kein Glück. Morgan lebt. Der Esel Stanton hat es vergeigt. Sniper sind auch nicht mehr, was sie mal waren.“
„Kommt er durch?“, wollte Jack von seinem weniger erfahrenen Partner wissen.
„Keine Ahnung“, murmelte Ethan und kommentierte das Offensichtliche: „Auf dem Bild der Überwachungskamera sehe ich ihn nur durch die Glastür seines Zimmers auf dem Bett liegen. Kann sein, dass er gleich abkratzt oder ein langes Leben führen wird. Fragen wir seinen Arzt?“
„Welcher ist es?“ Bei seinen Einsätzen konnte Jack nichts aus dem Konzept bringen, er blieb ruhig.
„Ein Rothaariger, glaube der einzige hier. Ah, der dort drüben ist er.“ Ethan konsultierte sein Smartphone und las die Daten zum Arzt ab. „Doctor Nathaniel Miller. Zweiunddreißig, verlobt, keine Kinder. Zwölftausend Dollar Studienschulden, keine Vorstrafen.“
„Haben wir die Patientenakte?“ Als Profi setzte Jack alles daran, Interaktionen mit möglichen Zeugen auf ein Minimum zu reduzieren. Das war sowohl konform mit ihren Guidelines als auch eine vernünftige Wahl, denn ihr Job bestand daraus, ungesehen zu bleiben.
„Synchronisiert gerade. Heute läuft hier wenig, muss daran liegen, dass ein Brückentag ist, vielleicht hat die halbe Belegschaft frei genommen.“ Ungeduldig starrte Ethan auf das Display, unterdessen beobachtete Jack weiterhin unberührt von der Situation die Menschen im Spital und konterte: „In einem Krankenhaus wird das wohl kaum etwas ausmachen.“
„Stimmt auch wieder. Ah, da haben wir endlich die Akte: John Morgan, zwei Schusswunden im Abdomen. Operation vor fünfunddreißig Minuten beendet.“ Er seufzte und übersprang einen Absatz, bis er zu dem Abschnitt kam, den er gesucht hatte. „Gute Heilungsprognosen. Shit.“
„Okay, das ist deiner, ich bleibe hier und mache Support.“
„Verstanden.“ Ethan kramte in seinem Rucksack und zog unauffällig eine kleine Spritze hervor, die er in seiner Hosentasche versteckte. Derweil zückte Jack sein Smartphone und entsperrte es – er hatte vor, seinen neuen Partner gut im Blick zu behalten, immerhin war das erst Ethans dritte Operation für ihre Agency. Es brauchte einen ganz besonderen Menschenschlag, um zu tun, was sie taten, sinnierte Jack. Es war eines, Terroristen in Afghanistan zu jagen oder am Zoll abzufangen, sie im eigenen Heimatland zu überwachen und still zu eliminieren, damit sie gar nicht erst zum Problem wurden, war dagegen näher an Spionage denn Kriegsführung. Sie lebten im Schatten, verzichteten auf die alltäglichen Annehmlichkeiten der Gesellschaft, ihre alten Persönlichkeiten waren längst aus den Akten getilgt und ein Zurück gab es nicht mehr. Für Jack spielte das keine Rolle, solche trivialen Dinge wie Freundschaften, geschweige denn Beziehungen, hatten ihn nie groß interessiert, von den meisten emotionalen Situationen blieb er unberührt. Bei Ethan dagegen war er sich noch nicht sicher, zu viel der normalen Welt steckte noch in dem Neuling. Entweder, sein Partner fände bald richtig Gefallen an seinem neuen Job oder er würde zu einer der angenehmeren Organisationen verschwinden. Einen Schreibtischjob bei der CIA, der NSA, vielleicht ein bisschen in Russland herumspionieren und mit Diplomatinnen schlafen. Langweiliger Kram, wie Jack fand, doch vielleicht die perfekte Zukunft für Ethan.
„Bin gleich wieder da.“ Damit erhob sich Ethan und schlenderte in Richtung der Krankenzimmer davon. Hauptsache, er wäre fertig, ehe die Cops auftauchten, die komplizierten jeden Einsatz nur. Jack verfolgte auf den Bildern der Überwachungskameras, wie Ethan den Gang entlangschritt und schließlich in Morgans Zimmer einbog. Morgan, einheimischer Terroristenführer einer Gruppe, die sich „Söhne der Freiheit“ nannten, seit einem halben Jahr auf ihrer Liste und nach dieser Nacht endlich gestrichen, seine Organisation zerlegt. In dem Raum gab es keine Kameras, also lehnte sich Jack zurück und sah sich um, bisher war die Polizei nicht auszumachen, ihre Zentrale hatte wieder einmal ganze Arbeit geleistet. Vielleicht hatten sie die Meldung der Schusswunden verlangsamt, vielleicht gar das ganze Intranet der Polizei lahmgelegt, wer wusste das schon. Keine Überraschung für Jack, die taktische Unterstützung für ihre Operationen war makellos. Obschon für ihn dank seiner Tätigkeit selbst die Vereinigten Staaten, seine Heimat, während ihren kleinen Einsätzen unsicheres Territorium war, die Regierung stand stets hinter ihm und lieferte den besten Ops-Support, den er sich wünschen könnte. Außer natürlich, man versagte, dann wäre man sehr schnell weg vom Fenster, denn was sie hier taten war das Gegenteil von verfassungskonform.
„Morgan eliminiert“, meldete Ethan über ihre Ohrstecker und nur wenige Sekunden später konnte Jack beobachten, wie der Partner aus dem Zimmer trat und sich auf den Rückweg machte. Er erhob sich, Zeit, weiterzuziehen, bevor jemand Verdacht schöpfte oder die Polizei auftauchte. Gerade, als Ethan zu ihm zurückkehrte, fiel ihm die abgedeckte Bahre, die von zwei Sanitätern vorbeigekarrt wurde, auf. Er hatte einen Verdacht, den er bestätigt sah, als er erneut sein Smartphone prüfte: Die Leiche unter dem Tuch war Stanton. „Ruhe in Frieden, Amateur, vielleicht kannst du im nächsten Leben besser zielen.“ Wesentlich besser gelaunt meinte er: „So, wir sind fertig – kommst du mit frühstücken?“ Damit wandte er sich ab und schritt, ohne auf Ethans Antwort zu warten, durch den Eingang auf den Vorplatz des Spitals. Noch war die Sonne nicht aufgegangen, aber in der Morgendämmerung hingen nur einige wenige Wolken als Schlieren am Himmel, es versprach, ein schöner Tag zu werden.
„Klar, ich könnte ein paar Waffeln vertragen“, stimmte Ethan zu, ehe er ergänzte: „Eigentlich schade um Stanton.“
„Du kennst die Regeln: Keine Fehler. War sein Problem, nicht unseres.“
„Da hast du Recht.“ Damit schien das Thema für Ethan erledigt und er wollte gutgelaunt wissen: „Also, wo bekommt man so früh was Vernünftiges auf den Teller? Ich habe einen Mordshunger.“
Jack gab sich Mühe, ein zufriedenes Grinsen zu unterdrücken. Wahrscheinlich hatte er sich getäuscht, Ethan war für dieses Leben gemacht und Jack ging davon aus, er würde sich mit Ethan in den kommenden Jahren gut vertragen.