Dies ist der 1. Teil der Fortsetzungsgeschichte „Das Manuskript“.
Merle lehnte sich auf dem Bürostuhl zurück und ärgerte sich über die zu enge Nachtwächteruniform. Sein Supervisor hatte kürzlich neue Arbeitsbekleidung bestellt und, unfähig wie der war, die Größen verwechselt. Den Gedanken, dass er mit seiner Vorliebe für Donuts selbst zur Hemdmisere beigetragen hatte, verdrängte er mit perfektioniertem Geschick. „Wann kommt der Junge endlich?“, brummte er und linste auf seine Armbanduhr. Erstaunt stellte er fest, sein Bruder war ausnahmsweise nicht zu spät.
„Sorry, Bruderherz, hab’ dir Unrecht getan – du hast noch dreißig Sekunden bis Mitternacht.“ Merle grinste, als Tanner wie aufs Stichwort vor den Überwachungskameras am Museumseingang auftauchte. Der Jüngere winkte frenetisch und Merle, zu faul zum Aufstehen, drückte den Summer. Er gähnte ausgiebig und beobachtete seinen kleinen Bruder auf dem flimmernden Röhrenbildschirm. „Sehen’se, Herr Hanswurst?“, meinte er zu dem Wackeldackel auf seinem Tisch. „Sie werden meinen Bruder mögen, der ist okay.“
„Na, du Pissnelke?“, posaunte Tanner, als er die Tür zum Kommandoraum, wie Merle das Kabäuschen der Security nannte, öffnete. „Ne ganze Weile nicht gesehen. Wir müssen öfter zusammen rumhängen.“
„Ja, wie in den guten alten Tagen.“ Merle seufzte theatralisch, indes zog der andere einen Stuhl heran und setzte sich. Seit er im Knast gewesen war, hatte er eine Menge Muskeln zugelegt, schaute aus wie ein Bodybuilder. Tanner blies die Backen auf und trommelte nervös mit den Händen auf den Oberschenkeln.
„Hör auf mit dem Scheiß, Tanner, du bist kein Drummer!“, ermahnte er den Dunkelhaarigen und schüttelte den Kopf. „Musik ist nicht deine Stärke, du hast das Rhythmusgefühl einer Wühlmaus auf Speed. Hättest in der Zelle weniger Zeit mit Trainieren, dafür mehr mit Mundharmonikaspielen verbringen sollen.“ Er schmunzelte und klopfte seinem Bruder auf die Schulter. „Bin froh, dass du draußen bist. Hast du dir schon überlegt, was du jetzt machen willst?“
„Ach, halt die Fresse, du Musikkritiker. Bloß weil du bei unserem letzten Coup entkommen bist und dich ohne Vorstrafen in den Ruhestand absetzen konntest, musst du dich nicht aufführen wie ein Apostel des guten Geschmacks oder so. Du planst eh ein krummes Ding, bist ja wohl nicht zum Vergnügen hier im Museum?“
„Apostel?“, lachte Merle. „Meinst du Moralapostel? Die haben nichts mit Geschmack oder Musik zu tun. Und nein, ich werd’ zu alt für den Gangsterkram. Wenn die meinen kleinen Bruder erwischen, weil ihm auf der Flucht die Hose runterrutscht“, er gluckste verschmitzt, „was denkst du, wie schnell die einen Fettsack wie mich ins Kittchen stecken?“
„Das schon wieder“, murrte Tanner verlegen.
„Ach komm, Bruder, es ist und bleibt saukomisch. Dein Arsch hat im Licht der Suchscheinwerfer geleuchtet. Ge-leuch-tet, Mann!“, grölte er und duckte sich weg, als Tanner ihn gegen den Arm boxen wollte. „Nein, nein.“ Er rang um Fassung und fügte an: „Nein, in dieser Stadt regiert die Mafia, da hat es keinen Platz für kleine Halunken wie uns. Ein anständiges Leben ist wesentlich gemütlicher. Und weniger gefährlich für meinen Fettarsch.“ „Apropos fett“, feixte Tanner, überging die neuerliche Demütigung wegen des ungünstigen Zwischenfalls mit seinem blanken Hintern, und kramte eine Schachtel aus seinem Rucksack. „Ich habe Donuts mitgebracht.“
„Oh, klasse! Danke Mann!“ Begeistert langte Merle zu und inhalierte den Duft der Hefegebäcke. „Bist ein echt stabiler Bruder“, nuschelte er mit vollem Mund und verschluckte sich. Hustend wollte er wissen: „Und, bist du noch Handlanger für diesen Privatdetektiv? Wie hieß der Typ? Abbott?“
„Jup. Der braucht manchmal einen Mann fürs Grobe mit wenig Skrupel“, tönte Tanner mit ordentlich Pathos und gestikulierte zum Trenchcoat, den er neben der Tür auf den Boden geworfen hatte. Er war ein schlechter Schauspieler, Merle durchschaute seinen kleinen Bruder, nickte allerdings gutmütig. Wahrscheinlich war der Job als Privatschnüffler öde, wie spannend konnte es schon sein, betrügende Ehefrauen zu beschatten? Aber zweifelsohne besser, als zu klauen und mit der Mafia gäbe es auch keine Schwierigkeiten. Wer weiß, vielleicht hatte Tanner sogar Zukunftsaussichten bei diesem Abbott-Kerl.
Nach kurzem Schweigen erhob Tanner sich ächzend: „Ich muss aufs Klo. Für kleine Detektive“, kicherte er, schlenderte zum Ausgang und schnappte sich seinen Mantel. „Bin gleich wieder da, dann können wir über alte Zeiten reden, was?“
„Uff, gut“, stimmte Merle zu und würgte einen großen Bissen der pinkfarbenen Leckerei herunter. „Fröhliches Pissen. Bis gleich.“
Gelangweilt starrte Merle auf die Überwachungsmonitore und streckte sich, wobei er mit dem kleinen Finger den Wackeldackel anstupste. „Hey, mein kleiner Freund, leisten Sie mir Gesellschaft, bis Tanner kommt? Der lässt sich mit dem Scheißen Zei…“ Merle unterbrach sich, als er Tanner auf einem der Monitore entdeckte. „Hey, da ist er ja!“ Mit einem Mal stockte Merle der Atem. Sein Bruder hielt eben eine Plastikkarte an das Paneel der Alarmanlage. „Heilige Kacke“, rief Merle aus und suchte den Tisch nach seinem Badge ab, der wie erwartet verschwunden war. Auf dem Monitor erkannte er, wie sich Tanners Silhouette durch eine Tür im Archiv schlängelte. Resigniert fluchend ließ er sich auf den Bürostuhl fallen. „Das ist nicht zu fassen, Herr Hanswurst, haben Sie das gesehen?! Da lässt man dieses Arschgesicht für eine Kaffeepause ins Museum und alles, was er will, ist, uns zu beklauen? Der Idiot wird seine Lektion nie lernen.“
Es hatte ewig gedauert, bis er Tanners Schritte auf dem Flur hörte. Merle hatte sich mit grimmiger Miene und verschränkten Armen positioniert, bereit, seinem Bruder eine Standpauke zu halten. Als Tanner eintrat, fror er augenblicklich ein, hatte sofort kapiert, was ihm blühte. Er brachte ein kleinlautes „Shit“ zustande, ein spiralgebundenes Buch rutschte unter seinem Trenchcoat heraus und klatschte auf den Boden. „Ups.“
„Sag, Bruderherzchen, was soll dieser Scheiß? Nach allem, was ich für dich getan habe? Du beklaust das Museum? Ernsthaft?“, redete Merle sich in Rage. „Willst du mich verarschen, du nichtsnutziger Wichswichtel? Nicht einmal Donuts gibst du mir wie ein ehrlicher Mann. Donuts! Ist dir eigentlich nichts mehr heilig?“
„Ich … ähm“, stotterte Tanner und setzte zu einer Erklärung an: „Siehst du, da ist diese Frau … wunderschön. Und sie hat mich nach einem Meeting gebeten, ihr dieses Buch zu besorgen. Ich glaube, sie mag mich, sie ist … hat mit mir geflirtet.“
„Du stiehlst einen staubigen Schinken für deine neue Schnalle und verrätst dafür deinen Bruder?“ Merle stand auf und fixierte sein Gegenüber erbost, plusterte sich auf, sodass die Knöpfe an seinem engen Hemd beinahe abplatzten.
„Du verstehst das nicht, sie ist … anders als alle anderen, und sie will dieses Buch. Sie ist die eine …“
„Gib mir das Buch und raus mit dir, aber sofort! Kannst ihr ja ein verfluchtes Gedicht schreiben, wenn du flachgelegt werden willst, wie jeder andere Mann auch, du seltendämlicher Vollidiot!“
Tanner räusperte sich, reichte ihm wortlos das Manuskript und trottete niedergeschlagen zum Ausgang. Schließlich hielt er inne, murmelte beschämt eine Entschuldigung und machte sich vom Acker.
„Verpiss dich!“, knurrte Merle und rieb sich über die Stirn. Als der andere gegangen war, klönte er: „Ach, Herr Hanswurst, nicht mal dem eigenen Fleisch und Blut kann man mehr trauen in dieser Welt.“ Merle schlug mit der Faust auf den Tisch, woraufhin der Hundekopf wild wackelte, und steckte das Buch in die Schreibtischschublade, um es auf seiner Runde zurückzubringen.
„Was für ein elendig dummer, verknallter Arsch“, stöhnte Merle, als er durch den Flur schlurfte. Er war wütend, trotzdem würde er seinem Bruder auch diesen Fehltritt vergeben. So war das nun mal mit der Familie. Er hatte seine Runde früher begonnen, nachdem er sich an den Donuts überessen hatte, brauchte er die Bewegung. Da fiel ihm ein, dass er das Manuskript hatte liegenlassen. „Na toll“, raunte er und folgte abwesend dem Lichtkegel seiner Taschenlampe, der um seine Füße auf dem schäbigen Linoleumboden tanzte. Er müsste später nochmal raus, um das blöde Ding an seinen Platz zu bringen, ehe jemand mitbekam, was sein Bruder angestellt hatte. Hin und wieder träumte Merle davon, wie es wäre, ein Einzelk… Ohne Vorwarnung prallte jemand in ihn, Merle taumelte und fiel der Länge nach hin, die Taschenlampe erlosch. „Oh, sorry, ich habe …“, stammelte er verwirrt, als ihn eine fremde Stimme anblaffte: „Wo ist das verdammte Buch? Sing schon, Mann!“
„Ich kann nicht singen, ich bin Nachtwächter.“ Vom Sturz und der Dunkelheit desorientiert, richtete sich Merle auf und versuchte das Geschehene irgendwie zu verarbeiten. Sollte er sich fürchten? Sein Herz klopfte schneller, ungeschickt fummelte er an seinem Gurt, doch bevor er den Taser zu fassen bekam, klang der Fremde plötzlich versöhnlich: „Es tut mir sehr leid, Sie angerempelt zu haben.“
„Keine Ursache“, gab Merle mechanisch zurück und der Schemen huschte von dannen. Merle tastete nach seiner Taschenlampe, schaltete sie wieder ein und da dämmerte ihm, was nicht in Ordnung war: Niemand außer ihm sollte hier sein! „Halt! Halt, wer sind Sie?“
Statt einer Antwort hallte ein Schuss durch die leeren Gänge und Merle fuhr zusammen. Ein zweiter folgte, dann herrschte Stille. Merle zögerte, er konnte seinen Puls spüren und ihm wurde ein wenig übel. Das war seine Chance, sein großer Auftritt, er könnte sich als Nachtwächter beweisen und … wollte er für das Museum wirklich Kopf und Kragen riskieren? Da waren offensichtlich bewaffnete Leute unterwegs und was hatte er? Einen verkackten Taser! Er atmete einmal tief durch, dachte an den Ruhm, die Ehre und, zugegebenermaßen, das Vertrauen des Museumsdirektors, das er würde ausnützen können, wenn er diese Gangster zur Strecke brachte. „Los, Merle, du schaffst das“, sprach er sich Mut zu und umklammerte seinen kleinen Taser.
Als Merle beim Eingangsbereich anlangte, vernahm er ein Wimmern. Wie er es in unzähligen Filmen gesehen hatte, hielt er die Taschenlampe über seiner winzigen Waffe, lehnte sich gegen die Wand und wirbelte ungelenk um die Ecke. „Oh“, stieß er überrascht aus, als er einen jungen uniformierten Cop auf dem Boden kauern sah, der unterdrückte Zischlaute von sich gab. „Was ist passiert, Officer?“
„Wonach sieht es aus?“, gab der andere durch zusammengebissene Zähne zurück. „Ich habe mir in den Fuß geschossen.“
Merle ließ seine Arme hängen, blinzelte einige Male und schnaubte frustriert. Er hatte keine Ahnung, was in diesem Museum vor sich ging. Keuchend half er dem anderen auf. „Kommen Sie, Officer, ich bringe Sie zum Security-Büro, da können wir einen Krankenwagen rufen.“ Während er den humpelnden und zeternden Polizisten stützte, fragte er sich, ob der dem anderen vom Manuskript erzählen sollte. Einen Reim darauf, um was es ging und wieso seine normalerweise friedliche Nachtschicht derart aus dem Ruder gelaufen war, konnte er sich beim besten Willen nicht machen.