Warnung: Diese Kurzgeschichte enthält Szenen, die auf einige Leser beunruhigend wirken könnten. Mehr zu unseren Warnungen sowie wann und weshalb wir sie anwenden, erfahrt ihr in unseren FAQ.
Eine unsichtbare Hand langt in meinen Schädel, der Daumen verkeilt sich in meiner Augenhöhle, presst mit aller Kraft nach außen. Mir ist, als könnte ich den Knochen reißen hören. Hinter meinem Brustbein schwappt säurehaltige Lava, sie wabert hoch und ich beuge mich gerade noch rechtzeitig über den Kübel, bevor die Kotze aus mir strömt. Ein blendendes Feuerwerk begleitet den immensen Druck, kurz glaube ich, mein Hirn sei geplatzt. Ängstlich drehe ich mich um, versuche meinen Blick auf sie zu fokussieren. Sie macht keinen Mucks, ich habe ihren Schlaf nicht gestört. Mein Glück währt nicht lange, ich bin in einem Orkan gefangen, jeder Gedanke wird von Schmerzen weggespült. Irgendwo zwischen den Flutwellen erinnere ich mich daran, zu atmen. Keuchend knie ich vor dem Sofa auf dem Parkett, meine Zehen krampfen, krallen sich regelrecht in den Wollfilz meiner Hausschuhe.
Die Wogen ebben ab. Ich bin eingekapselt, dumpf und ausgelaugt, weiß, die nächste Sturmfront braut sich bereits zusammen. Die Wolken sammeln sich, gleich wird der Donner grollen und der Blitz einschlagen. Doch für den Moment ist die Tortur lediglich eine flache Pfütze. Ich liebe diese Augenblicke, wenn der Nebel sich lichtet, die Sicht sich klärt und ich verstehe, dass es Zeiten ohne diese Qual gibt. Sie sind flüchtig, wertvoll und hoffnungsvoll. Ich betrachte meine Finger, meine Wahrnehmung existiert nur noch in fünfzehn Bildern pro Sekunde, sie stockt, hängt fest. Mein Nagellack ist bröckelig, abgekratzt von oben, mit den Schaufeln abgenagt von unten, und sieht aus wie das Bild vom Bodenhorizont, das mein Vater auf seiner Antarktistour gemacht hat. Mein liebstes Kind schlummert hinter mir, fest in Kissen gebettet, in ihrer eigenen Welt. Wie sie duftet, ihre Härchen schimmern golden im dimmen Licht, das durch die Vorhangritzen dringt. Ich lächle, zumindest vermute ich das. Mein Gesicht ist teigig aufgedunsen, die Falten erzählen meine Geschichte, verraten mich und die Schmerzen, die ich im Versteckten ertragen will. Wahrscheinlich weine ich, ich bin mir dessen längst nicht mehr sicher. Mir kommt es so vor, als läge die letzte entspannte Minute Jahre zurück.
Die nächste Episode klopft an, die Übelkeit nimmt zu, also bleibe ich beim Eimer sitzen. Mir ist klar, was kommt, ich schließe die Augen und warte. Die Krankheit bereitet sich vor, mir einen Klappspaten in die Schläfe zu rammen, die Hälfte meines Kopfes in eine breiig-pulsierende Masse aus sich windenden Neuronen zu verwandeln. Der Gestank meines Erbrochenen erschlägt mich plötzlich, ich würge und rufe dabei den Druck hervor, der mich in die Abwärtsspirale stößt. Ein salziger Geschmack überzieht meine Mundschleimhäute, mit jeder Träne sinke ich tiefer. Meine Haut ist feucht, fühlt sich an, als wäre sie über Äonen hinweg mit Seidentaft geschmirgelt worden. Ich bin roh geschunden, mein Körper zu erschöpft und müde, um das Schluchzen in mir festzuhalten.
Kaum ist es mir entkommen, wimmert hinter mir meine Tochter. Erst leise, dann ein wenig vehementer verlangt sie meine Aufmerksamkeit und ich kratze mir über die Lider, will die Schmerzen zwingen, mich zu verlassen. Stattdessen werden sie stärker, ihr Klagen weckt das Monster. Es poltert von der Stirn zum Scheitel, vom Scheitel zum Nacken, springt hinter meine Augäpfel, frisst Nervenenden an und schickt dunkle Flecken durch mein Sichtfeld. Brechreiz und Kopfschmerz geraten in einen Wettkampf, ich gehe im Strudel der Empfindungen beinahe unter, während sie hinter mir strampelt und kreischt.
Unbeholfen taste ich nach ihr, bekomme ein Füßchen zu greifen und streichle es rhythmisch. „Sssch, alles gut“, flüstere ich heiser, meine Zunge gehorcht bloß widerwillig. „Alles gut, Kleines. Bitte schlaf wieder.“ Es ist ein Flehen, meine Stimme gebrochen und dürr. „Oh, bitte, bitte sei ruhig.“ Es ist zu spät, sie hat sich in eine Not gesteigert, aus der sie allein nicht hinausfinden wird. Ich werde zu ihrem Stiefelknecht, bin seit ihrer Geburt nichts weiter als ihre lebendige Puppe. Es liegt an mir, sie sanft, behutsam und dennoch stark aus ihrem Schreikrampf zu zerren. Zitternd hieve ich mich meinen Oberkörper auf die Polster, strecke mich nach ihr aus und umfasse sie an der Hüfte, um sie heranzuziehen.
Mein heulendes Kind auf dem Schoß, ein stinkender Eimer neben mir, die Couch im Rücken und Marter, die jedem Herzschlag folgt. Mechanisch wippe ich vor und zurück, wiege das Häufchen Elend und bete zu einem Gott, an den ich nie geglaubt habe, sie möge endlich aufhören. „Sssch, ist gut, mein Schatz, ist gut.“ Ein Krächzen, mehr ist es nicht, und abermals schlägt heiße Pein gegen meine Brandung. „Sssh, es ist gut.“ Sachte halte ich sie an den Oberarmen, kreise mit meinen Fingerkuppen über ihre Schultern, rieche an ihrem Hals und drücke sie an meine Brust. „Bitte, bitte schlaf ein.“ Vor und zurück, ich schaukle vor und zurück, indes galoppiert eine Bestie durch meine graue Materie, schlägt mit ihren Hufen Brocken aus dem schleimigen Fleisch, das mein Wesen beinhaltet. Ich kann nicht länger, nein, ich will nicht, da höre ich auf zu existieren. „Schlaf ein, schlaf ein!“ Alles geschieht ohne mich. Vor und zurück, stetig schneller, immerzu und ohne Unterlass. Vor und zurück. Ich sehe ihre verzerrte Miene vor mir. Wie sie brüllt und keift, Löcher in mein Innerstes bohrt. „Schlaf verdammt nochmal ein!“ Vor und zurück. Vor und zurück. Vor und … Dann ist es still.