„Stellen Sie sich ein düsteres Kellerabteil irgendwo in einem x-beliebigen Plattenbau in Leipzig vor. Sehen Sie die Holztür, die schief in den Angeln hängt? Den grauen Betonboden und die Spinnweben vor den winzigen Fenstern? Riechen Sie den Moder der Wände und den Gestank, der aus den verrosteten Konservenbüchsen entweicht? Fühlen Sie das Holz unter Ihren Händen, als Sie über die brüchigen Regalböden streichen? Merken Sie, wie der Staub von Jahrzehnten an Ihren Fingern haftet?“
Steffen schüttelte innerlich den Kopf. So ein Blödsinn. Wie war er hier nur hingeraten?
Wenn er ehrlich zu sich war, wusste er genau, warum er hier war. Die Frauen. Immer wieder die Frauen. In diesem Fall Julia. Klein, braune Haare, Stupsnase, ein Mundwerk wie ein Bauarbeiter und die tollste Frau auf Erden. Mark hatte ihn nur aus Spaß auf dieser Datingseite angemeldet. Dieser „Internetseite für alle, die zu hässlich sind, um im Club eine abzukriegen“, wie er sie nannte. Er wollte Steffen zeigen, was sich dort für Loser rumtrieben. Was für Vollpfosten. Also hatten sie zusammen Steffens Profil eingerichtet und sich durch die Profile der anderen Mitglieder geklickt. Und da war sie: Julia. Die Frau seiner Träume. Architekturstudentin. Nett, hübsch, witzig und eine grandiose Tänzerin wie er seit Samstagnacht wusste. Und wie immer hatte er es mit der Wahrheit nicht allzu genau genommen. „Architektur studierst du? Wie spannend! Finde ich total interessant. Darf man da vielleicht mal mitkommen? Geht das?“, hörte er sich in seiner Erinnerung schleimen. Jetzt saß er hier. Montagmorgen, acht Uhr und hörte sich „Architektur 1: Wie Sie Kunden bei der Verschönerung ihrer Mietwohnung helfen“ an.
Oder anscheinend auch nicht. Warum standen denn jetzt alle auf? War die Vorlesung schon zu Ende? Nach 40 Minuten? Was hatte er verpasst?
Fragend schaute er Julia an. Sie lachte verschmitzt. „Na, hast du geträumt? Wir gehen jetzt in den Keller der Uni. Praxis statt Theorie. Mal ein bisschen Abwechslung vom Einheitsbrei der Vorlesungen.“
Also packte er seine Sachen und folgte der Maße der Studenten raus aus dem Gebäude, über den Vorplatz und rein in das nächste Gebäude. Treppe runter, Treppe runter und noch weiter runter. Wie viele Kellergeschoße gab es hier? Das Geplapper der Studentenschar hallte in den langen und kahlen Gängen wieder. Irgendwie merkwürdig, wie die Stimmen verzerrt wurden. Alles klang so metallisch. Dabei waren die Wände, der Boden und die Decke aus Beton. Grau und langweilig. Dunkel, das Licht der Neonröhren schluckend. Fast unheimlich. Aber nur fast. Immerhin waren sie eine große, fröhliche Gruppe. Und Julia war an seiner Seite. Nahm seine Hand, als sie den Anderen folgten. Gut fühlte sich diese Hand an. Ganz klein und zart. Aber gar nicht lasch.
Jetzt standen sie vor einer zweiflügeligen Stahltür und der Professor grinste verschwörerisch. Alle wurden still. Und als ob es einen Kanon gäbe, von dem er als Nicht-Architektur-Student nichts wusste, bildeten sich fünfer Gruppen. Gut, dass Julia ihn einfach mitzog, sonst hätte er doof im Weg rumgestanden und wäre aufgefallen, als sich alle Studenten leise und zielstrebig zu ihren Gruppen zusammenfanden.
„Meine sehr geehrten Damen und Herren, hören Sie mir jetzt ganz genau zu. Aber wirklich ganz genau!“, sprach der Professor sie auf einmal alle an. Stocksteif und sehr förmlich stand er da vor ihnen, die Hand auf der Türklinge. Steffen hätte nie gedacht, dass er eine so große Gruppe mal derart still erleben würde. Keiner räusperte sich, keiner scharrte mit den Füßen oder zuckte auch nur mit dem kleinen Finger. Alle standen sie da wie hypnotisiert und guckten zum Professor. Wie hieß der Mann nur? Julia hatte ihm den Namen gesagt, aber er hatte ihr nicht richtig zugehört. War zu abgelenkt gewesen von ihrem Ausschnitt. Solche Oberteile sollten in Unis verboten werden. Bei dem Anblick konnte sich doch keiner konzentrieren … Da, schon wieder. Jetzt hatte er gar nicht mitbekommen, was der Professor redete. „… ist bedeutend, dass Sie heute hier sind. Ich freue mich, dass wir dieses Jahr wieder so eine große Gruppe begeistern konnten. Die letzten Jahre war das Interesse an unserem Projekt eher bescheiden. Aber wahrscheinlich liegt es am Zeitraum. 70 Jahre waren eher ungünstig. Sie verstehen? … Sie haben jetzt die einmalige Chance etwas Außergewöhnliches zu erleben. Sie wurden hierauf vorbereitet, also haben Sie keine Angst, vertrauen Sie Ihren Instinkten. Immer schön dran denken: 60 Minuten entsprechen einem Jahr. Viel Spaß im Keller!“
Die Rede schien zu Ende, die Studenten rund um ihn rührten sich wieder. Allerdings schien keiner so verwundert über die merkwürdigen Sätze die sie eben gehört hatten wie er. Wahrscheinlich fehlte ihm wirklich der Kontext. Er sollte an seiner Konzentration arbeiten. Ab jetzt würde er zuhören, jawohl! Am besten er fing gleich mal an: „Und nun Julia? Wie geht’s jetzt weiter?“ „Du kommst also mit in das Kellerabteil? Noch kannst du nach Hause gehen.“ „Natürlich komm ich mit, das wird doch bestimmt interessant.“ Er wusste zwar nicht so genau, was da jetzt interessant dran werden sollte, aber Julia schien sehr erfreut, dass er dabei sein wollte. Sie strahlte ihn regelrecht an.
„Dann komm mit. Wir sind die erste Gruppe. Es muss sich nur jemand trauen diese vermaledeite Tür aufzumachen. Alles ziemliche Feiglinge.“ „Kein Problem. Ich mach das schon. So schwer kann es ja nicht sein.“, sagte Steffen mit einem Zwinkern, öffnete die Tür und hielt sie Julia auf. „Nach Ihnen meine Dame.“
Er folgte ihr durch die Stahltür und war enttäuscht. Ein ganz gewöhnlicher Kellerraum. Länglich, rechteckig, grau und voller Regale. Spinnweben überall. Unmengen von Konserven und Einmachgläsern. Was es hier alles gab. Eingelegte Birnen, Rotkohl, Sauerkraut, Gurkensalat, Gewürzgurken, Mandarinen und Ravioli konnte er auf den ersten Blick erkennen. Aber viel Zeit um sich umzusehen blieb ihm nicht, Julia war schon durch die nächste Tür verschwunden und er folgte ihr so schnell es ging. Allein in diesem öden Kellerabteil stehen? Ne, das musste nun echt nicht sein. Aber der nächste Raum sah auch nicht besser aus. Immer nur Regale und noch mehr Regale. Was sollten sie hier unten? Und wo waren eigentlich die anderen? Er sah nur Julia vor sich, aber es folgte ihnen niemand. „Julia, nun warte doch mal. Warum hetzt du denn so? Sollten wir nicht auf die anderen warten?“ Julia drehte sich um und grinste: „Ach was, die haben bestimmt einen anderen Weg eingeschlagen. Ich weiß, wo ich hinwill. Und wann ich da sein muss. Also komm mit. Leg einen Zahn zu. Ich habe keine Lust länger als 60 Minuten hier rumzulaufen. Übermorgen ist mein Geburtstag und den würde ich gerne wenigstens nächstes Jahr mit meiner Schwester verbringen.“
Gut, dass er jetzt zuhörte. Übermorgen Geburtstag. Da blieb ihm ja grade noch genug Zeit ihr ein Geschenk zu kaufen. Über was sie sich wohl freuen würde? Vielleicht Laufschuhe, so wie sie hier durch die Gänge raste.
Die Tür kam ihm doch bekannt vor. Waren sie im Kreis gelaufen? Ja, anscheinend, das waren die Regale vom Anfang mit dem Gurkensalat und den Mandarinen. Julia stand vor der Tür und schaute auf ihre Armbanduhr: „57 Minuten. Super, dann sind wir rechtzeitig wieder zurück. Kommst du? Ich bin schon gespannt. Du auch?“
Sie machte sich nichts aus seinem verwirrten Blick als sie die Tür aufmachte und sie einen leeren Gang vor sich fanden. Wo waren denn alle? Und waren sie wirklich so lange durch diesen Keller gelaufen? Kam ihm gar nicht so lange vor. Und was sollte das eigentlich alles? Sinnlos ihm Kreis laufen. Architekturstudenten, sehr merkwürdige Wesen. Wenigstens konnte er gleich nach Hause und sich mit Mark über ein gutes Geschenk für Julia beraten. Etwas Romantischeres als Laufschuhe sollte es schon sein.
Sahen die Lampen hier vorhin nicht anders aus? Das konnte aber eigentlich nicht sein, es waren die gleichen Gänge, durch die sie auch hergekommen waren. Trotzdem, irgendwas war anders. Aber er konnte nicht fassen, was genau.
Doch, die Tür sah jetzt aber wirklich anders aus. Die war vorhin doch noch grün. Warum war sie jetzt rot? Aber es war doch die Tür raus auf den Vorplatz, oder? Hatte er vorhin eine Tür nicht mitbekommen? War er so unaufmerksam gewesen, dass er eine knallrote Tür nicht gesehen hatte? Nein, Julia öffnete die Tür und er sah den Univorplatz. Nur, was war denn mit den Studenten los? Hatte er von einem geplanten Flashmob nichts mitbekommen? Diese Kleidung … und seit wann war Julia auch so gekleidet? Drehte er jetzt durch?
„Nun komm schon du Schisser. Keine Sorge, deine Kleidung passt sich an, sobald du durch die Tür trittst. Du wirst nicht auffallen. Lass uns los. Ich will 1945 erkunden. Ein Jahr ist schnell um, da haben wir viel zu sehen, bevor wir wieder in unsere Zeit können. Toll, dass du gewagt hast mitzukommen. Wir werden eine klasse Zeit haben!“
Sehr interessante Idee :) Das hätte ich bei den Clues nicht erwartet ;) Ich hätte auf jeden Fall noch weitergelesen!
Dann müsste aber wer anders weiterschreiben, denn ich habe keine Idee, wie es ab dem Punkt weitergehen könnte :D
Ich kann Mathias nur zustimmen und freue mich sehr, dass du mitgemacht hast :)
Für Clue Writing grüsst,
die Sarah
Super Geschichte! Ich bekomme nach dem ersten Mal zwar noch nicht alle Zahlen übereinander, aber ich lese sie mir sicher noch ein zweites und ein drittes Mal durch!
Danke für deinen netten Kommentar. Sowas freut zu hören.