Diese Story ist auch als Hörgeschichte erschienen.
Wenn ich mich richtig erinnere, dann müsste ich die Anhöhe in weniger als zwanzig Minuten geschafft haben, jedoch ist es doch schon ein Weilchen her, seit ich diese Bergtour zum letzten Mal gemacht habe; vielleicht sollte ich mich also nicht zu früh auf die saftigen Alpwiesen freuen. Eigentlich hätte ich heute ja viel Wichtigeres zu erledigen gehabt, als durch die atemberaubende Berglandschaft meiner Wahlheimat zu wandern. Doch als ich heute in der Früh die Augen geöffnet hatte und durch das Schlafzimmerfenster im Dämmerungslicht die taufrischen Berge sah, konnte ich der Verlockung einfach nicht wiederstehen. Zum Glück war die Schlafmütze mit der ich mein Bett teilte nicht aufgewacht und so konnte ich klammheimlich, mit meinen Wanderstiefeln in der Rechten und dem alten Militärrucksack in der Linken, verschwinden.
Meine Erinnerung hatte mich nicht betrogen. Ich kann schon den höchsten Punkt des felsigen Trampelpfads ausmachen und das, obwohl meine Augen nicht mehr die besten sind. Ich mag zwar das Knirschen unter meinen Sohlen wenn ich über den, mit ersten Eiskrusten bedeckte Schiefer laufe, aber das Gefühl, das sich in mir ausbreitet, wenn ich den Duft der letzten Bergblumen im Spätsommer rieche und von hoch oben über die Welt blicken kann, ist und bleibt unübertreffbar und jetzt bin ich keine fünf Minuten mehr davon entfernt.
Ich bemerke, wie ich erschrocken mit den Armen rudere, versuche das Gleichgewicht zu halten und mein Körper übernimmt die Führung; mein Kopf schaltet ab.
Mein Mund fühlt sich trocken an, viel zu trocken und ich versuche mit meiner rauen Zunge meine Lippen zu benetzen. Es fällt mir schwer einen klaren Gedanken zu fassen. Um mich herum ist alles grau und schwarz. Nein, da hinten schimmert etwas in hellem Grün aber es ist zu verschwommen, als dass ich erkennen könnte, was es ist. Vielleicht ein besonders hartnäckiger Klee oder eine garstige Distel? Ich weiß nicht, wann ich zum letzten Mal solchen Durst hatte und will nach meinem Rucksack greifen, kann mich aber nicht dazu auffordern. Mein Schädel pocht und ich glaube, da ist etwas Nasses an meiner Schulter. Dieser Ort gefällt mir nicht mehr, es ist viel zu grau und er schmeckt wie Metall. Ich sollte schlafen und das tue ich auch.
Als ich wieder aufgewacht bin, sind die Schmerzen plötzlich real geworden und ich brauchte eine gefühlte Ewigkeit, mir mein Bewusstsein zu erkämpfen. Wenn ich mich anstrenge, kann ich das berstende Gefühl in meinem Kopf und meiner Schulter gerade lange genug ignorieren, um mich davon versichern zu können, dass es mir unmöglich ist meinen Unterkörper zu bewegen; es scheint, als wäre ich hier, irgendwo zwischen massiven Felsen und Geröll, eingewachsen. Ich kann nicht viel erkennen, aber mein linker Arm liegt in einer unnatürlichen Position neben mir und unter mir, direkt unter meinen Schulterblättern ist der Boden etwas weicher. War ich bei meinem Sturz auf ein kleines Wildtier gefallen und würde damit unter den Hasen als Kamikaze zu fragwürdiger Berühmtheit kommen?
Die losen Steinbrocken, die in einer kleinen Schneise auf den Abhang zeigen, erzählen eine eindeutige Geschichte. Ich war wohl ausgerutscht und hier, auf diesem kleinen Plateau zum Stillstand gekommen. Allzu weit scheine ich also nicht gefallen zu sein, oder doch? Es bereitet mir große Mühe, aber ich schaffe es die Sonne zu lokalisieren, die ein beinahe weißes Licht auf mich wirft, und begreife, dass es bereits später Nachmittag sein muss; wie lange war ich ohnmächtig und wie lange würde es noch dauern, bis die Nacht einbricht?
Es gelingt mir den Schmerz zu verdrängen, indem ich mich solange darauf konzentriere, bis er abstrakt und unwirklich wird und ich glaube, dass die Blutung gestoppt hat; sicher bin ich mir nicht, aber ich will mich nicht damit beschäftigen. Ich frage mich, ob mein Bettgenosse sich wohl Sorgen um mich macht und sich auf die Suche nach mir gemacht hat aber ich befürchte, dass er mein Verschwinden gelassen nimmt. Ich war schon immer ein kleiner Querulant, der beim kleinsten Anzeichen von Streitigkeiten eingeschnappt reagiert und sich erst einmal absetzt, bis der erste Ärger verflogen ist und die Tatsache, dass mein Gefährte mir diese Eigenheit ohne Klagen erlaubt, ist einer der Gründe, warum ich mich immer wieder gerne mit ihm versöhne. Heute dürfte wohl das erste Mal sein, dass ich mir wünschte, er wäre unnachgiebiger mit mir.
Leider bin ich nicht geübt darin, die Uhrzeit zuverlässig vom Stand der Sonne abzulesen, aber vermutlich würde sie in zwei bis drei Stunden hinter meinen geliebten Bergwipfeln verschwinden und so sehr ich die raue Natur hier oben verehre, so sehr fürchte ich mich jetzt vor ihr. Es kostet mich Kraft und Überwindung meinen rechten, intakten Arm zu bewegen, aber wenn ich mich anstrenge, kann ich mich vielleicht mit dem losgerissenen Moos, das unweit von mir liegt, etwas vor der drohenden Kälte schützen. Wie gerne würde ich jetzt mit dem Feuerstein in meinem Rucksack über die feuchten Äste, die mir unerreichbar sind, schlagen und wie wahnsinnig ich mich nach meiner Wasserflasche sehne; aber selbst wenn ich wüsste, wo mein khakifarbener Begleiter ist, würde ich ihn nicht greifen können.
Ich muss mich irgendwie von der wachsenden Verzweiflung ablenken, die wie der spätabendliche Schatten über mich gekrochen ist. Doch es scheint mir beinahe unmöglich zu sein, von den quälenden Fragen abzulassen, die mir im schmerzenden Schädel rumgeistern. Was wäre, wenn ich heute nicht so früh aufgewacht wäre und warum habe ich mich nicht damit begnügt, den zarten, etwas welken Anis auf unserer Fensterbank anzuhimmeln? Warum hatte ich mich mit den letzten Alpenblumen trösten wollen, anstelle davon mich der Herausforderung zu stellen?
Es hat alles keinen Sinn und doch fällt es mir erstaunlich leicht, mich vom Gegenteil zu überzeugen. Ich weiß, dass ich nicht einschlafen darf, egal wie schwach ich mich fühle. Ich darf nicht einschlafen! Also beschäftige ich mich mit geistlosen Aufgaben, die mich wachhalten sollen. Ich konjugiere Verben, rechne mit den Zahlen meines Geburtsdatums und erinnere mich an Liedtexte aus meiner Kindheit. Nur sollte ich nicht noch einmal versuchen alle Wildtiere aufzuzählen, die hier leben; damit würde ich mich heute Nacht noch zu Genüge auseinandersetzen müssen, ohne mich jetzt schon in blanke Panik zu verrennen.
Ich weiß nicht, wie lange die Nacht schon angedauert hat und noch weniger, wie lange sie noch dauern würde. Ich bin müde, unendlich müde und es wird immer schwieriger an dem Glauben festzuhalten, dass ich diesen, für mich einst so fantastisch schönen und nun gleichermaßen schrecklichen, Ort jemals werde verlassen können. Nach und nach freunde ich mich mit der Idee an, hier ein Teil der Berge zu werden und die Schuldgefühle, mein Leben unbeendet hinter mir zu lassen, werden immer kleiner und scheinen nicht mehr so wichtig. Meine Augen bleiben offen, aber ich sehe trotz der klaren, hellen Nacht kaum noch etwas und ich bin versucht, dem Verlangen nach Schlaf nachzugeben. So schwach wie ich bin – wer weiß wie viel Blut ich verloren habe – stehen meine Überlebenschancen ohnehin sehr schlecht, zumal niemand nach mir suchen wird und so lasse ich es bereitwillig zu und dämmere weg.
Das Geräusch erinnert mich an den Dampfabzug unserer Küche und für einen kurzen Augenblick, glaube ich, den Anis auf den Fenstersims riechen zu können. Eine fremde Stimme spricht mit mir und etwas Warmes wird auf mich gelegt. Könnte ich doch nur verstehen, was mir gesagt wird. Der Lärm nimmt zu und ich glaube, dass ich es erkennen kann; es ist das Starten eines Motors, vielleicht ist es ein Hubschrauber? Ich frage mich, ob ich gerettet werde und schwebe von Seilen getragen davon.