Diese Story ist auch als Hörgeschichte erschienen.
Tja, da hocke ich heulend auf dem Klo. Das ist ganz und gar nicht der anmutige Abgang, den ich mir vorgestellt habe. Ich keuche, reibe mir mit den Handflächen über die Augen und quietsche entrüstet über meine Dummheit: „Prima, die Schminke ist verschmiert!“ Mit den Spitzen meiner Ringfinger tupfe ich die feuchte Mascara von den Augenwinkeln. „Wie komme ich auch auf die Idee, einen gemütlichen Abend zu wollen?“ Mein Schluchzen ersticke ich mit bitterem Lachen. Flackerndes Licht erhellt die Kabine, von meiner Position aus sehe ich vier längs, sechs quer verlaufende Reihen weißer Kacheln an der Decke, zwanzig auf siebenunddreißig Reihen der grau gesprenkelten Bodenfliesen. Bald eine Vierteilstunde bin ich hier bereits drin, ich hatte mich entschuldigt und meine Gäste vor dem Hauptgang sitzengelassen, um mich würgend über die Schüssel zu hängen. Zuerst war Clara, dann Mama, schlussendlich sogar Papa in die Damentoilette gekommen, um sich nach mir zu erkundigen. „Alles bestens, ich vertrage die Antipasti nicht“, beteuerte ich und wartete darauf, dass die besorgten Stimmen verschwanden. Sechs bis zehn Monate hatten mir die Ärzte gegeben, sechs bis zehn Monate, die ich in einem flüchtigen Zustand zwischen Verdrängung, Angst, Trauer und Irrsinn verbrachte. Als damals der erste Morgen des elften Monats kam, hatte ich mich kaum gewagt, die Augen zu öffnen, war überzeugt, mich in Luft aufzulösen. Eins von unzähligen irrationalen Gefühlen, die ich mittlerweile erlebt hatte.
„Isa, geht’s?“ Clara klopft an den Türrahmen meiner kleinen Festung und ich ziehe die Füße hoch. „Isa, ich sehe deinen Mantel auf dem Boden liegen.“
„Geh weg“, knurre ich, stampfe dabei ein klein wenig mit den Fersen aufs Porzellan. „Ich komm gleich raus.“ Manchmal wünsche ich mir, weder Freunde noch Familie zu haben, zumindest keine, die mir in jeder Scheißsituation beistehen.
„Isa …“, seufzt sie und macht einen Schritt auf meine Kabine zu.
„Clara, hau ab. Ich darf mir doch in Ruhe die Kotze wegwischen!“ Wir beide wissen, es ist nicht nur Kotze, obwohl mir das lieber wäre.
„Okay, okay“, murmelt meine beste Freundin und stöckelt aus dem Waschraum zurück ins viel zu schicke Restaurant.
Im Grunde kann ich mir nicht vorstellen, wie ich die letzten Jahre alleine ertragen hätte, vermutlich hätte ich früher aufgegeben. „Aufgeben“, brumme ich vor mich hin. „Aufgeben.“ Tue ich das? Genervt ächzend beuge ich mir vor und hebe den Mantel auf, ich habe vorgesorgt und vor der Abfahrt Zahnputzzeug in die linke Tasche gesteckt. Diese kleinen Dinge bemerke ich längst nicht mehr. Die Zahnbürste im Mantelsack, die Feuchttücher, auch die Ersatzkolostomiebeutel, ich bin immer vorbereitet. Zwischendurch erinnere ich mich an die Zeit vorher und mir wird bewusst, was ich verloren habe. Ja, im Verlieren bin ich Meisterin geworden, denn was ich finde, kommt mir kurz darauf abhanden.
Der Beutel sitzt richtig, routiniert klebe ich ihn fest, ziehe die Hose drüber, torkle aus der Kabine und halte inne, bevor ich mich nochmals auf die Toilette setze. Ich brauche ein paar Minuten, muss meine Kräfte sammeln.
Es ist seltsam, eine Erfahrung, die bloß wenige Menschen machen. Erneut lache ich, das Geräusch prallt trostlos gegen die Fliesenwände. Die Witze fehlen mir. Niemand erzählt platte Witze, wenn man todkrank ist und wenn, dann stets mit diesem Blick. Bäh, wie ich ihn hasse, diesen verfluchten Blick! Er ist schlimmer als Mitleid, sagt: Ich weiß, dass du nie wieder unbeschwert sein wirst, egal, wie sehr du dich danach sehnst, also überwinde ich meinen Kummer darüber und plaudere erzwungen gutgelaunt vor mich hin. Ehrlich, so erzählt man keinen Witz, das ist lächerlich und nicht auf die lustige Art und Weise.
Was bin ich für ein besonderes Geschöpf, ha! Im Ernst, es ist tatsächlich bizarr, wenn man sein persönliches Ablaufdatum ausgehändigt bekommt. Hier, sechs bis zehn Monate, danach fallen Sie um. Zack, wird die Zukunft, die man sich zusammen mit anderen, oder heimlich unter der Bettdecke zusammenfantasiert hatte, verschluckt. Weg ist sie, mitsamt den zwei Hunden, der Katze, dem hübschen Haus, den Kindern und dem Kompendium über die Paphiopedilum-Zucht, das man als Ruhestandsprojekt schreiben möchte. Einfach weg. Verloren halt. Bloß dreht sich das alles leider nicht um ein gestaltloses „man“, sondern um mich. Scheiße! Es geht noch beschissener, unfassbar.
Der ekelhafte Geschmack in meinem Mund macht mich wahnsinnig. Fluchend nehme ich einen Kaugummi aus der Manteltasche, eine kleine Überbrückung bis zum Zähneputzen.
Nach diesem ersten Morgen des elften Monats ist etwas mit mir passiert. Vorsichtiger Optimismus hatte sich eingeschlichen. Mein Lachen ließe sich beinahe mit aufrichtiger Freude verwechseln, ja, das kann ich gut, mir und anderen vormachen, die Welt sei in Ordnung. Eine Weile war sie das wohl, das stimmt schon. Der elfte Monat kam und ging, dann der zwölfte, der dreizehnte, irgendwann waren aus den Monaten Jahre geworden. Ich zählte mit, jeden Tag. Gemeinsam mit meinen Liebsten feierte ich, bejubelte jeden Moment und ja, ich litt und kämpfte um jedes Bisschen Leben, das in mir steckte. Über sein eigenes Ablaufdatum hinaus durchzuhalten hat eine beflügelnde Wirkung, ebenso eine verängstigende, allerdings flog ich meist zu hoch, als dass ich mich hätte herunterziehen lassen.
Die Klotür knarzt, ich halte die Luft an und drücke mir die Daumen, eine Fremde möge reinplatzen, von dem Gestank die Krätze kriegen und das Weite suchen.
„Schätzchen?“
„Mama, bitte!“, keife ich ungehalten, da schlägt sie die Tür hinter sich zu. So ist das, sie hat die Schnauze voll von meinen unerträglichen Launen und ich liebe sie dafür. Ihre Ungeduld ist erfrischend. Bis vor Kurzem hatten wir alle die Illusion aufrechtgehalten, ich sei keine Bürde, nicht der Keil in der Ehe meiner Eltern, nicht eine erschlagende Aufgabe, die kaum zu bewältigen ist. Ja, ich bin wertvoll, ohne Bedingungen liebenswürdig und bla, bla-fucking-bla! Es ist mir einerlei wie wahr es ist, ich habe es so satt, kann es nicht mehr hören, noch weniger aufsagen. Nichts hält ewig, nicht mal der beschwingte Mut einer, die vorübergehend glaubte dem Tod einen Streich gespielt zu haben.
Endlich bin ich stabil genug, um die Kabine zu verlassen. Die Zahnbürste in der Hand gehe ich zum Waschbecken und drücke eine ordentliche Portion Pfefferminzpaste auf die Borsten. Während ich Erbrochenes zwischen den Zähnen herausbürste, überlege ich, wie ich mit all dem Make-up das Gesicht waschen soll. Früher habe ich mich gerne geschminkt und ich wollte mich heute Abend so gerne wie früher fühlen.
Hoffnung ist das schlimmste, das weiß ich jetzt. Wegen dieser verfickten Hoffnung zerfalle ich bei vollem Bewusstsein, rotte vor mich hin wie der Joghurt, der hinten im Kühlschrank steht und den keiner wegwerfen will, weil es die Lieblingssorte ist und man ihn vielleicht trotz dem Schimmel essen könnte.
Ich bin damit durch, überhaupt bin ich mit allem durch. Nach und nach ist jedes Stück von mir verfault, ja, so ist das, ich habe dabei zugesehen. Kampfwille, Mut, Hoffnung, selbst die Dankbarkeit, ach, was hat sie mir Halt gegeben. Wie froh ich war um die Stunden, die Essen mit Papa, Filmabende mit Clara, die Kitze am Waldrand, Regentropfen auf dem Dachfenster, Mamas Parfüm … Auch dieses Gefühl ist weg. Einfach weg, verloren halt, wie alles andere. „Es spielt keine Rolle mehr“, flüstere ich mir zu und spucke aus. In zwei Tagen kommt der Morgen des zweiundsechzigsten Monats, der Morgen, an dem ich meine verfluchten Augen nicht öffnen werde!
„Isabella, Hase“, lächelt mich Papa an. „Isabella.“ Er steht im Flur, lugt durch einen Spalt in die Damentoilette und streckt seine Hand hinein. „Hase, ich weiß, es passt gerade nicht, aber ich möchte dir danken. Für den Abend. Er bedeutet mir viel. Ich hoffe, nächstes Mal geht es dir ein wenig besser, damit wir uns einen Eisbecher teilen können, du magst Süßigkeiten doch so.“
Scheiße! Da ist sie, diese verdammte Hoffnung!