Diese Story ist auch als Hörgeschichte erschienen.
Ich habe diese schrecklich nichtsagende Farbe, mit welcher letztes Jahr sämtliche Tür- und Fensterrahmen gestrichen worden sind, schon immer gehasst. Sie war weder grün noch grau und sie biss sich mit Tinas Blut, das in einem wilden Muster darauf verspritzt worden war.
Ich saß zusammen mit einigen meiner Klassenkameraden im einzigen Gruppenraum des kleinen Schulhauses und beobachtete Leonie, die zitternd unter einem Pult kauerte, sich sanft hin und her wiegte und leise summte, so als würde sie versuchen, sich in den Schlaf zu singen. Als es begonnen hatte, hatten wir noch an ein spontanes Fest mit Feuerwerk geglaubt und waren auf den Flur gelaufen, auf eben jenen Flur, auf dem Tina nun leblos am Boden lag.
„Ihr müsst leise bleiben“, flüsterte unser Lehrer erneut verzweifelt, währendem er ständig nervös von der Türbarrikade zu uns und wieder zurück blickte und nicht mehr in der Lage war, uns Sicherheit vorzugaukeln. Es war schon einige Zeit ruhig und die Schusssalven waren nur noch sporadisch zu hören, doch wir wussten, dass er noch immer hier war und die aufgestellten Tische vor der großen Fensterfront boten uns lediglich psychologischen Schutz vor dem was kommen mochte. Wir hatten ihn nur kurz gesehen, als er vor dem Eingang durchgelaufen war und wahllos in die perplexe Menschenmenge geschossen hatte, in der wir uns befanden. Ich hatte ihn ohne seine langen Haare nicht sofort erkannt, doch es war Matthias gewesen, der mit einem grausamen Lächeln auf den Lippen durch das vereinsamt wirkende Schulhaus geschlendert war. Der Anblick des jungen Mannes, wie er uns scheinbar gelassen und fröhlich mit dem Gewehr seines Vaters gejagt hatte, brachte die Erinnerung an den Tag zurück, als die Schulleiterin in unsere Klasse gekommen war und Matthias mitgenommen hatte. Sein alter Herr hatte sich, vermutlich mit demselben Gewehr, das Leben genommen und kurz darauf hatte Klaus Witze darüber gemacht und ihm kichernd und feixend gesagt: „Ich würde mir auch den Kopf wegblasen, wenn ich so einen Verlierer zum Sohn hätte.“
Marina saß dicht neben mir und umklammerte meine Hand. Ich kannte sie nicht gut und obschon wir seit zwei Jahren dieselbe Klasse besuchten, hatte ich kaum je etwas mit ihr zu tun gehabt, doch in der Not sucht man Freundschaft, sogar bei Fremden. „Wieso tut er das?“, murmelte sie wieder und wieder, wie ein Mantra, und ein flüchtiger Blick auf den Twitterfeed meines Handys verriet mir, dass diese Frage die ganze Schule bewegte. „Warum tut er das?“
Ich wollte es nicht, wehrte mich mit aller Kraft dagegen, doch ich konnte meine wirren Gedanken nicht davon abhalten, zwischen all dem Chaos und meiner lähmenden Angst so etwas Ähnliches wie Verständnis für den Attentäter zu finden. Widerwillig erinnerte ich mich an all die Dinge, die wir ihm angetan hatten, all die Gemeinheiten, die Bloßstellungen, die nie enden wollenden Stiche und Angriffe, deren einziger Zweck es gewesen war, uns als Gruppe näher zusammenzurücken. Wir hatten ihn benutzt und das nur, weil er anders war, weil wir in ihm nicht unser Spiegelbild erkannt hatten und ich fragte mich, ob alles anders gekommen wäre, hätten wir unsere oberflächliche Glückseligkeit nicht in der Zerstörung eines anderen gesucht. Was hier geschah, war wohl die grausamste Form des Nexus Finalis, eine von unserer eigenen Boshaftigkeit ins Rollen gebrachte Kausalkette, deren Ende für uns noch unklar war.
„Mama, Papa, es geht mir gut. Ich liebe euch!“, schrieb ich mit kalten Fingerspitzen und hoffte, dass ich die Gelegenheit haben würde, ihnen diese Worte während einer Umarmung sagen zu können und gerade als die Nachricht gesendet worden war, sprang Kai abrupt auf und erschrak damit alle anderen, so dass sich ein ängstliches Raunen durch den Gruppenraum ausbreitete. „Dieses Monster!“, schrie er aufgebracht, währendem er ziellos hin und her marschierte. „Dieses Monster schlachtet uns hier ab und…“ Ich konnte geradezu zusehen, wie seine Wut durch diese simple Feststellung verschluckt wurde und senkte mein Haupt, als Kais Stimme ins Wanken geriet. Ich blickte weg, tat so als würde mich das alles nicht berühren, als er begann zu weinen und sich zum Stoßgebet hinkniete. „Bitte, oh Herr, bitte lass uns nicht durch die Hand dieses Monsters sterben.“
Das Warten wurde mir unerträglich und ich hatte jedes Zeitgefühl verloren. Wie lange waren wir schon hier, wie viele Schüsse waren bereits gefallen und wie vielen von uns war es wie Tina ergangen? Ich schmeckte den metallisch-süßlichen Geschmack von Blut in meinem Mund, als meine Unterlippe schließlich aufplatzte, nachdem ich eine gefühlte Ewigkeit auf ihr herumgekaut hatte und ich überlegte mir, ob wir nicht einfach durch die Fenster fliehen und den Sturz in Kauf nehmen sollten. Vielleicht würden einige von uns danach noch weglaufen können und vielleicht wäre es besser, auf dem Blumenbeet vor dem Pausenplatz zu zerschellen, als wie eine Jagdtrophäe zu enden. Immerhin, dachte ich mir, hätte so jeder eine Primel als Grabblume.
„Wir haben alle gewusst, dass er seltsam ist, aber ich hätte nie gedacht, dass Matthias so krank sein könnte“, sagte Marina, die bisher nur stumm dagesessen war und von Kai hinter die Deckung hatte getragen werden müssen. Zaghaft und aus einem Grund, den ich nicht kannte, antwortete ich: „Er ist nicht krank und er ist kein Monster. Er ist ein Mensch, genauso wie wir, nur haben wir ihn nie wie einen behandelt.“ Ich fühlte, wie mich plötzlich alle bestürzt anstarrten und ich verstand ihre Fassungslosigkeit, ich selbst konnte ja kaum glauben, was ich gerade gesagt hatte. „Das was hier gerade passiert“, fuhr ich fort, ohne es zu wollen, „ist ein Syndrom unseres Verhaltens, eine schreckliche Nebenwirkung unserer Bösartigkeit und obwohl es keine Entschuldigung dafür geben kann, können, nein, dürfen wir nicht so tun, als wären wir nicht ein Teil davon.“
Nach mir hatte niemand mehr gesprochen, sogar das Weinen war verstummt und nur Herr Baumgartners raschelnde Kleider waren zu hören, als er hinter den aufgestellten Tischen von einem Schüler zum nächsten kroch um uns zu beruhigen. Als die Schüsse wieder anfingen und wir gespannt horchten, ob sie näher kamen, entwich mir ein Schluchzen. „Es ist soweit“, dachte ich und tippte eine letzte Botschaft an meine Eltern. „Ich liebe euch von ganzem Herzen!“, schrieb ich und hoffte, dass die beiden unwissend dem normalen Tagesgeschäft in der Patisserie nachgingen, ohne etwas von alledem was hier geschah mitbekommen zu haben; ich wünschte mir so sehr, dass sie noch einige Stunden, oder wenigstens einige Minuten länger nichts wissen mussten und glücklich sein konnten, bevor sich alles für immer verändern würde.
Die Holzsplitter flogen dicht an meinem Gesicht vorbei und ich starrte entsetzt auf das Loch, das wie durch Magie in der Tischplatte vor mir aufgetaucht war. Nur nebenbei bemerkte ich, wie die anderen panisch zu den Fenstern rannten, schrien, hinfielen und übereinander stolperten. Überall lagen die Scherben der verbarrikadierten Milchglastür, die unter Matthias schweren Stiefeln knirschten, als er durch eine Öffnung kletterte und danach ruhig auf uns zuschritt.
Marina war wie versteinert sitzengeblieben und ich konnte nicht aufstehen und hielt weiter ihre Hand, selbst nachdem das Blut sich auf dem Teppich ausbreitete, wie eine blühende Blume. Einige versuchten verzweifelt auf Matthias einzureden und ich konnte den herzzerreißenden Schrei hören, als Kai versuchte sich auf ihn zu stürzen und einige Meter vor mir zu Boden ging. Danach schritt mein Schulkamerad auf mich zu, seine Waffe klickte und seine Stiefel blieben direkt vor mir stehen. „Es tut mir leid“, hörte ich mich sagen, „Es tut mir leid, wir sind Frankenstein!“ Ich schloss die Augen und wartete.
Werte Clue Reader
Angesichts der Tatsache, dass ich für meine Halloween Kurzgeschichte ein Thema gewählt habe, welches nicht nur wegen seiner traurigen Aktualität für viele sehr bedrückend ist, möchte ich meine Geschichte nicht unkommentiert stehen lassen.
Der Ich-Erzähler reagiert auf die Geschehnisse der Geschichte nicht in dem Masse schockiert, wie man es vielleicht erwarten würde, sondern deutet sogar an, dass er die Motive des Täters nachvollziehen kann und ihn nicht zwingend für einen kranken oder schlechten Menschen hält – sondern für ein Produkt seiner Umwelt. Genau da liegt für mich die Kernaussage dieses Textes.
Ich möchte damit auf keinen Fall zum Ausdruck bringen, dass eine grausame Tat wie diese alleine durch soziale Begebenheiten erklärt werden kann oder sollte. Dennoch ist es nicht von der Hand zu weisen, dass Tiere (und damit auch der Mensch) durch äusseren Druck zu extremer, teilweise auch gewaltsamer Gegenwehr getrieben werden können. Insbesondere dann, wenn Drittpersonen konstant negativen und starken Einfluss auf eine Person ausüben, besteht die Gefahr, dass Gefühle wie Hilflosigkeit und Verzweiflung zu (auto-) Aggressionen führen können, und das selbst bei psychisch gesunden Menschen.
Die Idee, dass jemand, der zu einer so extremen Reaktion fähig ist, ein von Grund auf böser Mensch sein muss, ist in meinen Augen falsch und die sozialen Faktoren, die eine solche Tat begünstigen, komplett auszublenden, wäre kurzsichtig, wenn nicht sogar vermessen. Als soziale Tiere, müssen wir uns darüber im Klaren sein, dass wir mit unserem Handeln oder nicht-Handeln unsere Mitmenschen beeinflussen und Verantwortung dafür übernehmen.
Dass wir auf solch brutale und verachtungswürdige Geschehnisse mit Betroffenheit, Trauer und Schock reagieren ist selbstverständlich und eine Tat wie jene, die in der Kurzgeschichte beschrieben wurde, ist niemals und unter keinen Umständen zu entschuldigen – das möchte ich mit allem Nachdruck betonen! Trotzdem sollten wir neben all der Betroffenheit und Trauer Raum für die Frage lassen, welchen Teil wir als Mitmenschen dazu beisteuern und was wir dazu beitragen können, solche Dinge zu vermeiden.
Ich hoffe, dass unsere werten Clue Reader meinen Gedankengang zu meinem diesjährigen Halloween Thema nachvollziehen können. Auf das niemand von uns je zu Doktor Frankenstein wird und selbst unsere inneren Monster einen friedlichen Platz in unserem Leben finden, Prost.
Mit den besten Halloween-Wünschen
Rahel