Diese Story ist auch als Hörgeschichte erschienen.
„Hey, in welche Kiste soll das?“, rief Lena durch das Chaos im unbewohnten Schlafzimmer. Ich wandte mich um und konnte zuerst ihren staubbedecken Lockenschopf erkennen, was mich kindisch kichern ließ. „Wo hast denn du denn deinen Kopf reingesteckt?“
„Wandschrank“, gab sie trocken zurück und hielt ein antikes Fotoalbum mit Ledereinband hoch. Die heldenmutige Asthmatikerin tauchte kopfüber in den Staub, wedelte mit dem Buch und setzte eine Wolke frei, die einem mittleren Vulkanausbruch würdig gewesen wäre.
„Spinnst du?“, keifte ich lachend, ehe ich auf das Album deutend meinte: „Das nehme ich mit, kannst es einpacken.“
Meine beste Freundin tat, wie ihr geheißen und verschwand sogleich wieder in dem großen Wandschrank. Ich hingegen blieb für eine Sekunde stehen, dankbar, dass sie mir bei dieser Aufgabe zur Seite stand. Meine Großeltern waren mir zwar nicht sonderlich nahe gewesen, trotzdem fand ich es traurig, ihre Wohnung auszuräumen. Es war unglaublich, wie viel Krimskrams sie in ihrem Leben angehäuft hatten. Schon als Kind war mir das Haus unfassbar vollgestopft vorgekommen. Wenn ich es heute mit meiner spartanisch eingerichteten Wohnung verglich, wurde mir das noch bewusster. Bücher, Klamotten, drei ganze Essgeschirr-Sets und Besteck, alte Deckenlampen, sogar solche aus der Weimarer Republik und Kartons über Kartons randvoll mit Nippes. Oma hatte diesen Ornament-Kram geliebt, nahezu alle fünf Jahre wurde die komplette Wohnung umdekoriert … Nun ja, immerhin konnte jetzt der Trödelhändler sein Glück damit versuchen, es zu verkaufen.
Ich zwang mich in einer Schublade zu wühlen. Ordentlich gefaltete Leintücher, so weit das Auge reichte. „Haben die damit ein Decken-Fort gebaut?“, murmelte ich und konnte ein Schmunzeln nicht unterdrücken, während ich die Laken in eine Kiste für das Brockenhaus packte. Vorfreudig auf die herannahende Kaffeepause, griff ich mir das letzte Stück in der Schublade und hielt zu meinem Erstaunen ein altes Flanellnachthemd in den Händen.
„Träumst du? Ist alles okay?“ Verwirrt schaute zu Lena hoch, die neben der Altkleidertüte hockte. „Was, träumen?“
„Naja, du sitzt einfach da und starrst das Nachthemd an. Mindestens schon eine geschlagene Minute lang.“
Ich erhob mich und legte es aufs Bett. „Es war in der falschen Schublade.“
Lena zuckte mit den Schultern, stellte den Sack ab und deutete ungeduldig in Richtung der Tür. „Soll vorkommen. Machen wir eine Kaffeepause? Ich brauche was Leckeres dazu, einen Zuckerschock könnte ich gut gebrauchen.“
Widerstrebend nahm ich meinen Blick vom Nachthemd und folgte ihr nach unten. Die Stufen der Treppe knarrten unter meinem Schuhwerk, über mir teilte das Fenster das Sonnenlicht in vier Segmente. Dank dem Nachthemd wurden meine Erinnerungen wacher, lebendiger. In meiner Kindheit hatte ich ebendieses weiße Stück Flanell, das meine Oma am liebsten zu Bett getragen hatte, höchst faszinierend gefunden, wohl da sie darin, in Kombination mit ihrem zerzausen Haar, ein wenig wie ein Gespenst ausgesehen hatte. Großmutter war vor über einem Jahrzehnt gestorben. Friedlich im Schlaf, war mir erzählt worden. Dieses Nachthemd zu finden, hatte mich aus der Bahn geworfen, mir aufgezeigt, dass mich vielleicht doch mehr mit meinen Großeltern verband, als ich annahm.
Lena war vor mir in der Küche angelangt und hantierte mit der antik anmutenden Filter-Kaffeemaschine herum. Heiter sah sie auf und hielt eine Papiertüte von der Bäckerei nebenan. „Schau mal, was ich heute Morgen leckeres gekauft habe. Lass uns was naschen.“
„Danke. Warte, ich mach das, ich kenne die Kaffeemaschine.“
Mir Platz machend, erkundigte sie sich: „Was ist denn mit dir los? Du bist plötzlich total nachdenklich.“
„Keine Ahnung“, brummte ich, damit beschäftigt, die widerspenstige Kaffeemaschine zum Laufen zu bringen. „Kindheitserinnerungen.“
Lena nickte stumm und machte sich beschwingt daran, die Mokkawürfel auszupacken und auf zwei kleinen Tellerchen anzurichten. Ich war wirklich froh, sie zu dabeihaben. Ihre unbedarfte Art mit der Situation umzugehen, war exakt das, was ich brauchte.
Das braune Getränk tropfte in die Tasse und verströmte seinen Duft, unterdessen sinnierte ich wehmütig, wie rasch alles vorbei sein konnte. Unbemerkt, schleichend wird die Gegenwart zur Vergangenheit und besteht bald nur noch aus Erinnerungen. Alles, was uns bleibt ist unser Bestes zu geben, ein erfülltes Leben zu führen, denn …
„Das riecht ja lecker, was ist das für Kaffee?“
„Hm?“, machte ich, hob mechanisch die Tüte auf und las laut die Marke ab. Es war an der Zeit, aus meinen Grübeleien ins Hier und Jetzt zurückzukehren, unsere Existenz geht so oder so verdammt schnell vorüber; aber das Nachthemd will ich behalten.