Diese Story ist auch als Hörgeschichte erschienen.
Diese Geschichte ist Teil der lose verbundenen Story-Reihe „Der Nachtvogel“.
„Der Schleimanalysator ist schon wieder kaputt!“, beschwerte sich Baron von Wulfenhausen und musterte das große Gerät skeptisch, während er seine verchromte Fliegerbrille auf dem Zylinder zurechtrückte, sodass sie schön gerade saß. Die Maschine gab ein demotiviertes Rattern von sich, mit einem Zischen entwich etwas Dampf, dann verstummte sie. In Anbetracht der Tatsache, dass ihm für seine frustrierende, ja jede Hoffnung zerschmetternde Erkenntnis bis auf eine vereinsamte Spinne an der Decke jegliche Zuschauerschaft fehlte, schnappte sich der Baron seinen Stock und stakste gekränkt auf die Veranda hinaus. Der späte Nachmittag war in den typisch-erquickenden Industriesmog getaucht, Rauch qualmte aus den hunderten Kaminen der Stadt und verdeckte die über der Hügelkette tief stehende Sonne. In diesem Moment war der Baron unendlich froh, auf der Anhöhe zu wohnen, auch wenn die Fahrt für seinen Dampfwagen jeweils eine regelrechte Klettertour darstellte. Dort unten, in den schmutzigen Gassen, wo die Kinder laut herumriefen und mit Murmeln spielten, hätte er sich keinesfalls auf seine Arbeit konzentrieren können. Lange genug hatte er sich selbst insgeheim Ignoranz gegenüber dem Pöbel vorgeworfen, doch die Wahrheit war viel einfacher: Er hatte nichts gegen arme Leute, er wollte nur nicht tagsüber daran denken, wie viel Leid es in der Welt gab, solche Überlegungen waren der Nacht vorbehalten. Zumindest war er kein Faulpelz, wie mancher andere reiche Schnösel in den Westhügeln.
Ein Zeppelin tuckerte vor der gelben Scheibe vorbei, verdunkelte den Abend für einen Augenblick.
„Liebster, ist der Schleimanalysator wieder explodiert?“, erkundigte sich Lady Fairyblossom, seine langjährige Lebensgefährtin, eine holde Schönheit im wallenden Kleid. Natürlich wurden sie mit unglaublicher Häufigkeit dafür verspottet, im unziemlichen Konkubinat zu leben, denn die Neider kannten ihr wahres Geheimnis nicht. Er gluckste, wie nur ein Mann, der seinen Schnurrbart liebte, glucksen konnte und entgegnete: „Ausnahmsweise nicht, nein, irgendeines der Rohre scheint nicht mehr zu halten, meine Holde.“
Lady Fairyblossom zuckte fatalistisch mit den Schultern und wischte sich mit ihrer beinahe vollständig weißen Hand einen Fussel vom Fledermausärmel. „Ich denke nicht, dass das deine Aussichten signifikant rosiger macht. Eine Explosion hat immerhin einen gewissen Unterhaltungswert.“
„Wie dringend benötigen wir die Maschine denn?“, erfragte der Baron vorsichtig und musterte die verträumt Limonade nippende Wissenschaftlerin eingehend. Es war in mehr als nur einer Hinsicht eine glückliche Fügung des Schicksals gewesen, dass die beiden sich getroffen hatten, daran hegte der Baron keinen Zweifel. Nebst ihrer innigen Beziehung genossen sie ebenfalls ein, wie der Edelmann zu sagen pflegte, grandiotastisches Arbeitsverhältnis. Seine nahezu unerschöpflichen finanziellen Mittel ermöglichten der Forscherin, jeden Wunsch zu verfolgen, ihre Erkenntnisse und Maschinen eröffneten ihm im Gegenzug ungeahnte Perspektiven. Ihre Beziehung war derart perfekt wie diejenige zwischen einem Chefkoch und einem Nimmersatt. Als sie zur Antwort ansetzte, ließ er sich neben ihr nieder.
„Liebster, du weißt so gut wie kaum ein anderer, ohne den Analysator können wir diese impertinenten Schleimangriffe gegen deine Persona nicht aufhalten. Wenn wir keine zutreffende Aussage über Dichte, Konsistenz, Gewicht, Größe und Herkunft treffen können, werde ich niemals herausfinden, wo das Schleimkatapult steht und wem es gehört.“ Mit für sie unüblichem Nachdruck fügte sie hinzu: „Die Schurken der Nacht dürfen nicht gewinnen! Kein Unhold wird je wieder den Nachtvogel abschießen!“
Der Nachtvogel, was für ein exquisiter, schmeichelhafter, nein, königlicher Name für einen zeitgenössischen Helden! Baron von Wulfenhausen lächelte in allergrößter Glückseligkeit. Niemand, aber auch wirklich niemand, hatte den exzentrischen Millionär im Verdacht, der den Großteil seiner Zeit in seinem die Stadt überblickenden Anwesen verbrachte und sich äußerst selten unter die Menschen mischte. Lady Fairyblossom erhob sich, streckte sich mit knackenden Gelenken, gar unschicklich und burschikos. „Ich kann bestenfalls erahnen, wie du das siehst, holder Angebeteter – wäre es nicht wundervoll, wenn ich deinen Miniaturzeppelin noch schneller machen könnte?“
„Bist du dir sicher, dass ein solches Gefährt noch schneller sein kann?“, erkundigte sich der Baron, von der Idee seiner Geliebten gefesselt. „Das wäre in der Tat grandiotastisch.“
„Selbstverständlich kann er schneller werden“, erläuterte Lady Fairyblossom mit glänzenden Augen. „Ich ersetze einfach den kleinen Motor durch einen Hochdruck-Dampfantrieb und die Maschine wird durch den Himmel flitzen wie kein Zeppelin zuvor.“
„Dann müssen wir das tun!“ Des Barons Entschlossenheit ließ die zierliche Frau zusammenfahren, bevor sie hell zu lachen begann. „Dann wird es dich erfreuen zu erfahren, dass ich es bereits getan habe.“ Mit schelmischem Pathos in ihren Zügen vollführte sie einen Knicks, ehe sie kokett flötete: „Dein Hochgeschwindigkeits-Zeppelin erwartet dich, oh Nachtvogel!“
Der Baron bedankte sich in aller seines Standes unziemlichen Überschwänglichkeit, wusste er doch genau, dass diese Stadt ohne Lady Fairybloßom keinen Superhelden hätte, ja, höchstwahrscheinlich in Anarchie versinken würde. Aus dem Haus war das Schellen des geheimen Nachtvogel-Telefons zu vernehmen und die Dame stellte ihre Limonade beiseite. „Ich werde antworten.“
Als sie durch die majestätischer Porte entschwunden war, streckte sich der Baron auf dem Schaukelstuhl aus um den Sonnenuntergang zu beobachten. Die Dämmerung setzte über der industriellen Metropole früh ein, der Himmel verwandelte sich vom smogerfüllten Gelbgrau zu einem rasch tiefer werdenden Schwarz. Bald wäre es für den Helden an der Zeit, seine mechanischen Flügel anzuziehen, sich an den Zeppelin zu hängen und in die Dunkelheit zu entschweben. Lady Fairyblossoms hohe Absätze klackten, als sie über die Schwelle auf die Veranda trat – ihre Mine verriet nichts Gutes. „Wertester, schlechte Nachrichten! Die Hafengauner haben den Bürgermeister entführt!“
„Keine Bange, ich werde die Kidnapper einfangen um sie der Gerechtigkeit zuzuführen!“, rief Baron von Wulfenhausen aus, erhob sich ruckartig und machte sich auf den Weg, sich umzuziehen.
Die Stadt unter ihm badete in schwachen, flackernden Gaslichtern sowie dem Schein einiger Glühbirnen, als der Nachtvogel an seinem schnaufenden Zeppelin hängend dem Hafen entgegenglitt. Von hier oben sahen die Häuser klein und unbedeutend, die gefahrerfüllen Gassen friedlich aus. Der Seewind peitschte gegen seine schwarze Vogelmaske, welche ihm die notwenige Anonymität verlieh. Routiniert schraubte der Nachtvogel das Vergrößerungsglas auf seine Vogelmaske und suchte sein Gesichtsfeld nach Unholden ab. Siehe da! – wie immer standen die Gauner der Hafenbande am Pier, schmauchten Zigarren und unterhielten sich lautstark. In der Tat hielten sie den Bürgermeister gefangen, er war an einen Lehnsessel gefesselt, der in ihrer Mitte auf dem Pier stand. Diese Halunken machten sich nicht einmal die Mühe, ihre Missetaten zu verbergen, besaßen die Dreistigkeit, sich unantastbar zu fühlen! Doch sie hatten ihre Rechnung nicht mit dem einsamen Kämpfer für Gerechtigkeit gemacht!
Behände ergriff der Nachtvogel sein dampfgetriebenes Blasrohr, welches er zu Beginn seines Fluges aufgeheizt hatte und las den Druck von der Anzeige ab – er war bereit! Er befestigte es an der Maske, sodass er mit einer Kopfbewegung zielen konnte und nahm das Ventil des Auslösers zur Hand. Mit einem fließenden Griff klinkte er sich vom Zeppelin ab, breitete seine mechanischen Schwingen aus, glitt lautlos über den Hafen, eine elegante Abwärtsspirale beschreibend. Der Held zeigte nicht die geringste Absicht zu warten, bis er auf dem Boden anlangte, er hatte die technologische Überlegenheit auf seiner Seite und gedachte, diese auch in jederlei Hinsicht zu nutzen. Er wandte seinen Kopf so, damit er die hämische Fratze des ersten Gauners ins Visier bekam und öffnete das Ventil. Ein lautes Zischen war zu vernehmen, welches das Abfeuern der Betäubungspfeils verriet – Jahre der Gewöhnung hatten den Nachtvogel derart geübt werden lassen, dass er schon den zweiten Unhold erfasste, als das mechanische Rattern des automatischen Nachlademechanismus der Waffe verstummte. Mittlerweile sahen sich die Gegner unruhig um, suchten ihre Umgebung nach der Bedrohung ab, konnten nichts erkennen und wurden, einer nach dem anderen, von den Betäubungspfeilen dahingerafft. Schließlich, nach kurzem Gleitflug, landete der Nachtvogel elegant nur einen Schritt vor dem Bürgermeister und klappte seine mechanischen Schwingen ein.
„Gute Güte, ich danke dir, maskierter Held!“, rief das Stadtoberhaupt aus, als der Nachtvogel ihn mit einem in seinen Flügeln eingebauten Messer losschnitt. „Wie kann ich dir das jemals vergelten?“
Wie es sich gehörte, machte der Nachtvogel einen Knicks vor dem Bürgermeister, den man im dürftig flackernden Gaslicht kaum ausmachen konnte. „Wenn Sie etwas über Schurken mit einem Schleimkatapult erfahren, können sie es mich wissen lassen, diese Information wäre für mich äußerst hilfreich.“
„Aber natürlich, ich werde meine besten Leute darauf …“ Weiter konnte der Bürgermeister nicht sprechen, denn eine ohrenbetäubende Explosion zerriss den Himmel, ein oranger Feuerball erleuchtete den Hafen für einen Wimpernschlag, die Augen des Bürgermeisters weiteten sich panisch. „Was war das?“
„Mein dampfgetriebener Zeppelin“, entgegnete der Nachtvogel mit einem indignierten Seufzen. „Es stellt sich heraus, dass ein Antrieb, der mit glühenden Kohlen funktioniert, sich nicht besonders gut mit Wasserstoff verträgt. Meine Mitarbeiterin und ich haben jedoch dafür noch keine Lösung gefunden, obwohl wir schon siebzehn Luftschiffe gesprengt haben.“
Mit unverhohlener Bewunderung musterte der Gerettete den Unbekannten mit der Maske. „Ich hätte mir nie träumen lassen, dass das Gefährlichste daran, ein nokturnaler Superheld zu sein, die eigene Ausrüstung ist!“
Trotz asubleibender Schleimexposion ein Gedicht – Grandiotastisch!
Sehr hochverehrter Herr von und zu Nockenstein,
Explosionen sollten sparsam eingesetzt werden, damit der Schleim nicht auf unseren Bildschirmen kleben bleibt, was zu Schadenersatzforderungen führen könnte. Nichtdestotrotz darf hier und da ein Zeppelin detonieren, denn wir alle wissen, dass Zeppeline genau das am liebsten tun! Der Schleim ist vorerst sicher eingelagert und wird bei unserer Übernahme der Weltherrschaft jedoch sein glorioses Comeback feiern.
Es verneigt sich und grüsst,
die holde Sarah