Dies ist der 1. Teil der Fortsetzungsgeschichte „Road Trip“.
Dies ist unsere Geschichte, oder besser, meine Geschichte, denn du bist abwesend. Nun ja, gewissermaßen, ich ahne, du bist da draußen, musst es sein. Irgendwo. Offen gestanden zögere ich, bin überfordert damit, wo ich anfangen soll, wieso ich dir das eigentlich erzähle, doch ich brauche ein Publikum, kann die Einsamkeit nicht mehr ertragen. Unzählige Jahre liegen zwischen uns, unzählige Meilen hinter mir. Naja, wird schon schiefgehen, ich blamiere mich lediglich vor jemandem, der mir nicht zuhört.
Ich wusste, was käme, hatte es bereits lange gewusst. An einer längst vergessenen Stelle in Raum und Zeit, auf dem Weg hierhin durch die Nacht, ist es mir schließlich klargeworden. Zwischen einem der lächerlich kleinen Schlucke aus dem lächerlich großen Kaffeebecher von der letzten Tankstelle, der Entdeckung des von schweren Reifen flachgefahrenen Opossums am Straßenrand und der Erkenntnis, wie viel Leben die Nacht erfüllte. Abertausende Insekten, Eulen, Fledermäuse und selbst das Opossum, wenn von ihm noch mehr übrig gewesen wäre als eine Schleifspur auf dem in der Hitze flirrenden Asphalt. Wobei, eigentlich flirrte der Asphalt nachts nicht, oder? Kann Asphalt in der Nacht flirren? Er fühlt sich jedenfalls flirrend an, wie tanzende Luftmoleküle in der Mondeshitze. Aber was wird kommen? Ich habe es vergessen, in die Tiefen meines Verstandes sinken, gar in sie versickern lassen und …
Halt, wo bin ich? Ach, genau, im Hier und Jetzt, geparkt vor den Türen der Aufzuchtstation, wartend, lauernd, einem auf Beute sinnenden Raubtier ähnlich. Ich zerstreue mich schnell, denke an was war, was ist, was sein könnte. Zeit verfließt nicht nur in der Erinnerung, sondern genauso in der Gegenwart zu einem allinearen, schwammigen Etwas, das ich niemals gänzlich zu fassen bekomme. Vielleicht habe ich mir diese Fähigkeit oder Schwäche im Laufe der Zeit auf meinen Reisen angeeignet, womöglich war ich schon ewig so. Die Erinnerung daran ist, wie alles andere, im Chaos, aus dem meine Persönlichkeitsfragmente bestehen, aufgegangen. Erinnerungen, egal an was, sind alles, wir sind pure Information. Ob an die Entstehung des Universums oder an das Eiersalatsandwich von heute Mittag, gefolgt von einer Feige zum Nachttisch, so frisch, als könnte ich sie noch auf meinen Geschmacksknospen schmecken. Den Mund habe ich mangels einer Serviette mit meinem letzten Taschentuch abgewischt, Schnupfen darf ich keinen kriegen, ich verbiete ihn meinem Körper, obwohl das Verbot bei dieser unerträglichen Hitze ohnehin überflüssig ist. Schnupfen ist grauenhaft, wie ein Parasit, der … Wie auch immer, ich sollte mich auf meine Aufgabe konzentrieren, meine Grübeleien wegschließen. In der Abgeschiedenheit meiner Reisen habe ich in mir die Gewohnheit kultiviert, frei zu assoziieren, man hat ja sonst nichts zu tun, außer dem Spinnen von Gedankenranken. Und den Beutelratten auszuweichen oder Monster zu überfahren. Genug der Ablenkung, es ist so weit!
Ich will entschlossen mit einem Ruck aufstehen, den Wagen verlassen und die Tür zuschlagen, stattdessen bleibe ich auf dem unbeleuchteten Parkplatz vor der Aufzuchtstation stehen, darüber sinnierend, ob ich eine Zigarette anzünden sollte. Eine essentielle, nahezu philosophische Frage: Wie viel gesteigertes Lungenkrebsrisiko ist der Genuss wert? Jeder wird irgendwann sterben, Statistiken über Mortalitätsraten sind alles, was uns davon abhält, am Rand des Wahnsinns, der Machtlosigkeit entlangzuscheuern, aufzugeben. Zumindest gönnen sie einem die Fantasie von Kontrolle. Die Versuchung gewinnt, der Statistik wird der sprichwörtliche Mittelfinger gezeigt, immerhin ist heute ein besonderer Tag.
Die Autotür hinter mir fällt schwer zu, gefolgt von dem lauten, im suburbanen Nirgendwo wiederhallenden Blubbern, als ich auf den „Lock“-Button meiner Schlüssel drücke. Wer dieses Geräusch erfunden hat, dieses infernalische, nervtötende Geblubber, das klingt, als würde der arme Wagen sich gleich übergeben, gehört schwer bestraft – ein Hurensohn sondergleichen, menschlicher Abschaum erster Klasse. Wer hat es überhaupt erfunden? Und viel wichtiger: Welche Grausamkeit, welche Finsternis in seiner Seele hat ihn dazu getrieben?
Wieder stelle ich mich der Tatsache, dass ich in der Realität lebe, im Hier und Jetzt, bloß eine Aufgabe habend, auf die ich mich konzentrieren sollte. Maschinengleich, mechanisch schreite ich über den Parkplatz auf das einzige Licht zu. Eine kalte Energiesparlampe thront hinter ihrem vergitterten Lampenschirm, gleich einem Mottenkönig über der gläsernen, zerkratzten Eingangstür. Die Untertanen umschwirren sie, als wären sie jedem ihrer Befehle hörig, bereit, für sie in den Krieg zu ziehen. Zum Glück führen Energiesparlampen keinen Krieg, haben kein geheimes Bewusstsein – oder? „Oder?“, verhallt die Frage in meinen Gehirnwindungen, als ich meinen Dietrich mit dem charakteristischen Geklimper aus der Jeanstasche krame und ins Schloss stecke. Diese Energiesparlampe scheint friedlich gesinnt zu sein, bislang strahlt sie weiterhin Licht aus und macht keine Anstalten, zu explodieren, trotzdem muss ich mich vorsehen. Wie nur sehr wenige Menschen wissen, gibt es Dinge, die auf den ersten Blick grundverscheiden von dem sind, was sie zu sein scheinen.
Die Gänge sind menschenleer und verlassen, wie erwartet, quasi jedes öffentliche Gebäude verwandelt sich nachts zum Mausoleum. Gerne hätte ich eine weitere Zigarette geraucht, leider war das hier drinnen verboten und wer wäre ich, mich Regeln zu widersetzen? Natürlich, was ich gerade tue ist per se Regelbruch. Dennoch, auch Regelbrecher müssen ihre Regeln haben, eine winzige Illusion der Ordnung im Chaos. Die angeblich leisen Sohlen meiner Sneakers machen auf den abgetretenen Linoleumfliesen gequält-quietschende Laute, die mir allerdings nicht unangenehm sind, weil sie niemand außer mir vernehmen kann.
Ich habe vor meinem Besuch Google befragt, denn das Internet weiß beinahe alles, vom Muffinrezept bis zur Menge und exakten Spezies der Aliens in Rosswell. Zu dieser Aufzuchtstation wurde jedoch kaum etwas verraten. Die Betreiber haben auf ihrer Website zwar extra auf die Kinderfreundlichkeit der Besichtigungstouren hingewiesen, dummerweise sind Familienanlässe wohl kaum von Interesse für mich. Etliche Jahre bin ich durch dieses Land gereist, stets auf der Suche, auf der Jagd. Endlich bin ich angekommen, obgleich dieser leise Zweifel hartnäckig in meinem Kopf nagt, mir das Fürchten lehrt. Was, wenn ich mich täusche, wenn das bestenfalls eine weitere Zwischenstation ist?
Wisst ihr was? Scheiß auf die Regeln! Ich zünde mir eine Zigarette an, blase den Rauch genüsslich zur grünen Decke – ich glaube zumindest in der Dunkelheit ihr Grün spüren zu können, dieser Ort riecht nach modrigem, bleihaltigem Grün. Ein rotes, schräg hängendes Exit-Schild hinter mir ist die einzig nennenswerte Lichtquelle in dem Gang, durch den ich voransneakere. Da kann ich die Tür sehen, eine lackierte, hölzerne Pforte, in die oben eine gemusterte Milchglasscheibe eingelassen ist. In von Hand aufgemalten Lettern steht darauf „Archiv“, der Ort, den ich aufspüren will. Ein vorfreudiges Kribbeln überkommt mich, fährt durch meinen Körper. Mein Arm zittert leicht vor Aufregung als ich ihn nach dem Türknauf ausstrecke und die Kippe unter den Sohlen meines ungeeigneten Einbrecherschuhwerks zertrete. Ich bin überzeugt, an diesem Ort werden weitaus unheilvollere Biester aufgezogen als die Jungtiere des nahen städtischen Zoos, obschon das die ahnungslose Bevölkerung glauben soll. Wieder fällt mir das Sandwich von heute Mittag ein, mein Magen knurrt, beschwert sich, dass ich mein System seither nur mit Nikotin und Koffein aufgefüllt habe, wie immer, wenn ich lange Tage auf der Straße verbringe. Gott, was gäbe ich jetzt für ein Eiersandwich?!
Bald, beruhige ich mich, bald kann ich all die überteuerten Snacks an Tankstellen kaufen, die ich haben will, doch zuerst muss ich mich dem stellen, worauf die letzten fünf Jahre meines Lebens herausliefen. Eine Geschichte, die bloß ein Ende haben kann, zum Vorherein bekannt, bevor es inszeniert wird. Ich drehe den Türknauf und trete ein, bereit, dem Gesichtslosen abermals ins Antlitz zu starren.
Meine Hand ertastet den Kippschalter, legt ihn mit einem Klacken um. Eine nackte Glühbirne taucht das Kämmerchen in sumpfiges Gelb, flimmert, gibt unruhig pulsierendes Licht gepaart mit einem gequälten Sirren ab. Die Enttäuschung muss mir ins Gesicht geschrieben stehen, bis auf einen alten, spinnwebenbedeckten Aktenschrank und einen staubigen Holzschreibtisch ist der Raum verwaist. Ich schreite behutsam zum metallenen Aktenschrank, meine Finger ergreifen vorsichtig die oberste von drei Schubladen, welche mit einem vergilbten, handschriftlichen Etikett gekennzeichnet ist: „Nichts.“ Nach einigem Ruckeln gibt die Schublade nach, das einzige Hängeregister darin wankt hin und her, verspricht die begehrte Antwort. Sachte schiebe ich die hintere Hälfte auf, um einen Blick ins Innere zu erhaschen, und da ist sie tatsächlich, die Antwort: Ein einziger Zettel, seit Äonen von jeder menschlichen Berührung verschont geblieben – etwas, worum ich ihn beneide. Liebevoll hebe ich ihn auf, überfliege gebannt die Zeilen … Gott, sie haben es getan, sie haben es wirklich aufgezogen, vermutlich gar mit jungen Seehunden gefüttert! Rasch, etwas zu hart, stoße ich die Schublade zu. Ich bin schockiert, wenngleich ich nicht deswegen hergekommen bin. Ich suche ein anderes Monster, wie die meisten Leute sie mangels eines besseren Wortes bezeichnen, wenn ihnen dieser Name auch keinesfalls gerecht wird. Wieso nennen wir das, was uns unbekannt ist und uns verschlingen will, ein Monster? Wäre nicht UFO, „Unbekannter, fressbegieriger Organismenzerfleischer“, passender, angebrachter?
Mit einem lauten Knall explodiert die altersschwache Glühbirne über mir, ein oranger Funke segelt hinunter, erlischt auf halben Weg und da plötzlich kann ich es hören – es kommt schnell näher.
Ich renne, stolpere, fange mich, meine Raucherlunge und den asthmatischen Atem verfluchend, werfe ich die Eingangstür auf, haste auf meinen Wagen zu. Schon von weitem entriegle ich die Türen, selten war ich derart froh darüber, mein Auto kotzen zu hören wie dieses Mal.
Ich weiß nicht mehr, wie ich eingestiegen bin, mein Fuß traktiert das Gaspedal und der Motor heult gefoltert auf, ehe ich davonbrause, alles hinter mit lassend, über das ich morgen auf einem schmuddeligen, alten Fernsehbildschirm in einem noch schmuddeligeren, älteren Diner einen Bericht sehen werde. Ich habe mich getäuscht, es war etwas anderes, als das, was ich gesucht habe. Es war nicht du, nur etwas wie du, vielleicht etwas, das ist, wie du hättest sein können, hätte sich unsere Geschichte anders gesponnen. Kinderfreundlich war diese Besichtigungstour jedenfalls keineswegs, stelle ich sarkastisch fest.
Bist du da draußen? Hörst du mir überhaupt zu? Meine Güte, ich brauche jetzt ein Eiersalatsandwich – mehr als alles andere in dieser Welt!