Diese Story ist auch als Hörgeschichte erschienen.
Jessica war eine der Angestellten der Europäischen Union, die mit dem Gesamtwirtschaftlichen Ungleichgewichtsverfahren zu tun hatten. Natürlich wussten die meisten ihrer Freunde nicht so genau, worum es dabei ging, also erklärte sie ihnen immer, dass sie die makroökonomischen Entwicklungen innerhalb der Union überwachen mussten, um Risiken für den Finanzmarkt früh zu erkennen; spätestens dann begriffen die meisten überhaupt nichts mehr und trauten sich auch nicht, weiter nachzufragen. Und die, welche es auch dann noch nicht verstanden hatten, fragten nicht weiter nach. Doch dieses Mal hatte die erfahrene Europapolitikerin, welche zwar die Berichte nicht selbst schrieb, aber in den richtigen Kommissionen saß, nicht wirklich eine Ahnung, was sie auf der Erdbeer-Plantage in diesem südlichen Mitgliedsstaat verloren hatte. Dies war nur eine weitere sinnlose PR-Aktion von Brüssel, bei der sie alle in unpassender Kleidung durch irgendwelche Agrarbetriebe schritten und Obst probierten, um Volksnähe und Verständnis für die krisengebeutelten Länder zu zeigen. Nicht, dass Jessica die Grundidee für komplett verkehrt hielt, aber wenn schon, dann müssten sie zu einem Kleinbauern gehen und nicht auf die Plantage von einem Konzern, der selbst hunderte Mitarbeiter hatte entlassen müssen, um sich seine Profitmarge weiterhin zu sichern. Sie würde, wenn sie wieder in Brüssel wäre, ein ernstes Wörtchen mit den PR-Leuten reden müssen. Und dazu kam, dass sie sich sicher war, dass sie an ihrem Schreibtisch mehr fürs Volk tun konnte, als wenn sie mühsam mit ihrer Krücke, die sie seit dem Unfall brauchte, über eine Plantage humpelte.
Eben langte die kleine Gruppe wieder auf dem Zufahrtsweg an, während Jessica mit halbem Ohr den Worten des Plantagenbetreibers lauschte und ab und an nachfragte und dazu ununterbrochen für die Kamera lächelte, damit die Presse auch einige gute Bilder hätte. Sie langweilte sich zu Tode und versuchte das Gesicht nicht zu verziehen, weil ihr Bein noch immer schmerzte und insgeheim wünschte sie sich nichts sehnlicher, als endlich in das Hotelzimmer zurückkehren zu dürfen und in die Badewanne zu liegen. „…nein, wir verwenden nur Dünger, der auf Stickstoffverbindungen basiert“, schloss der Plantagenbetreiber, den sie informell Takis nennen konnte, eben seine weitschweifigen Erläuterungen. Jessica nickte brav und stellte schließlich die Frage, von der wohl jeder erwartet hätte, dass die Politikerin sie dem Geschäftsmann stellen musste: „Und wie sieht es mit den Jobs aus?“
Takis zögerte kurz, bevor er mit offensichtlichem Bedauern erklärte: „Wir mussten wegen der Depression einige Stellen abbauen, aber ich habe so viele Angestellte behalten, wie ich irgendwie konnte.“
Obwohl Jessica für ihn Verständnis hatte, fragte sie sich jetzt noch mehr als zuvor, wer von ihrem Stab diesen Besuch vorbereitet hatte. Erst waren da all die Protestierenden mit den „We are the 99%“-Schildern auf der Zufahrt und jetzt auch noch ein Arbeitgeber, der viele Leute entlassen hatte. Wie stellten es diese Genies sich eigentlich vor, dass sie daraus eine PR-Aktion machen sollte? Sie ließ sich von ihrem Ärger nichts anmerken und gab eine nichtssagende und bedeutungslose Antwort, bevor sie angestrengt nach etwas unverfänglicherem suchte, um das Thema zu wechseln. Sie deutete auf ein kleines und gealtert wirkendes Häuschen, das nicht weit entfernt neben dem Weg stand. „Was ist das?“
„Nichts Besonderes, nur ein Materialschuppen“, entgegnete Takis gerade bevor es geschah.
Keuchend lehnte sich Jessica gegen die gestapelten Düngersäcke, die fast eine ganze Wand des Schuppens einnahmen. Sie fuhr sich mit ihrer schmutzigen Hand über die Stirn, um sich den Schweiß abzustreifen und begriff erst danach, dass sie damit den ganzen Dreck ins Gesicht schmierte. Nicht, dass es jetzt noch eine Rolle gespielt hätte, denn sie hatte das Gefühl, als ob gleich ihre Kapillaren platzen würden, denn ihr Puls pochte tief und unerträglich laut in ihrem Schädel, während von draußen die derben Rufe zu vernehmen waren. „Wie viele Leute haben Sie an diesem Standort eigentlich entlassen?“, fragte sie Takis über den Lärm hinweg, der mit geweiteten Pupillen und einem Gesichtsausdruck der Panik in der anderen Ecke saß. „Etwa zweihundert“, gab er sehr leise zurück, sodass Jessica schon fast erraten musste, was er gesagt hatte. „Sonst wäre die ganze Plantage bankrottgegangen und geschlossen worden.“
„Das da draußen sind verdammt viele davon, das ist ein verfluchter Mob!“, zischte sie, während der Kameramann Giovanni sie weiter filmte. Wenn sie lebend hier herauskommen würden, wäre dies wohl eine ziemlich große Story – und wenn nicht, dann erst recht, dachte sie sich sarkastisch. Die Stimmen von den wütenden Arbeitern schienen immer näher zu kommen, jedenfalls wurden sie lauter.
„Haben die uns gesehen?“, fragte Takis ängstlich.
„Natürlich, wieso sollten sie sonst hierherkommen?“, gab die Reporterin zurück, deren Namen sie vergessen hatte, bevor sie sich an die Politikerin wandte: „Haben Sie die Polizei erreichen können?“
Sie schüttelte den Kopf: „Kein Empfang, wir sind allein.“
„Glauben die denn, dass wir zu dem einen Prozent gehören, dass sie ausnimmt?“, rief Takis, der immer panischer zu werden schien. „Ich hatte doch auch keine Wahl, sonst hätten alle ihre Stelle verloren!“
Jessica zuckte scheinbar gleichgültig mit den Schultern, denn trotz der Furcht vor dem, was kommen musste, hatte der Fatalismus bei ihr rasch die Oberhand gewonnen. „Das ist doch jetzt auch egal, wir sind offenbar die Bösen in der Geschichte.“
„Was?“, sagte Takis, der etwas zitterte. „Das ist verdammt nochmal nicht fair!“
„Das Leben ist nicht fair“, entgegnete Jessica und atmete tief durch, um sich etwas zu beruhigen. Die Reporterin sah zu ihr hinüber und fragte: „Glauben Sie nicht, dass genau diese Gleichgültigkeit der Politiker das Problem ist?“
„Echt jetzt?“, fuhr Jessica die andere wütend an und setzte ihre Tirade gleich fort, bevor sie es sich hätte anders überlegen können. „Ich arbeite mehr als zwölf Stunden am Tag daran, die Scherben zusammenzukehren und habe dabei mehr erreicht als die meisten – wenn die Leute nicht kapieren, dass auch ich nicht zaubern kann, bitte, dann haben sie die Krise wohl verdient!“ Etwas leiser fügte sie dann hinzu: „Immerhin mache ich was.“
Die Journalistin sah sie ungläubig an, einen solchen Ausbruch hätte sie von der als überkorrekt bekannten Politikerin nicht erwartet und sie schwieg endlich. Jessica, die noch immer mit ihren widerstreitenden Gefühlen von Angst, Wut und Fatalismus kämpfte, versuchte, sich auf einen Ausweg aus der Situation zu konzentrieren, immerhin war dies auch sonst ihr Job. Es würde nicht mehr lange dauern, bis der wütende Mob bei dem Geräteschuppen angelangt wäre und sie war mit der Krücke nicht besonders schnell. Dann begriff sie es und ohne zu zögern erklärte sie: „Ihr drei könnt schnell genug rennen, also müsst ihr flüchten und mich zurücklassen.“
„Wir können doch nicht…“, begann die Journalistin, welche Jessica schon den ganzen Tag auf die Nerven ging. Sie unterbrach sie barsch: „Es ist wie mit der Krise: Siehst du eine bessere Lösung, dann bitte, setz dich dafür ein. Und wenn nicht, dann tu verflucht nochmal das, was am rationalsten ist!“ Während die andere sie trotzig anstarrte, hatte sich Takis längst erhoben und auch der Kameramann stand zögernd auf. Jessica zweifelte keine Sekunde daran, dass die anderen flüchten würden, doch das war in Ordnung, schließlich hätten sie auch zu viert keine Chance gegen einen Mob aus hundert Leuten gehabt und immerhin musste sie so nicht ihre möglicherweise letzten Minuten mit diesen Nervensägen verbringen. Sie hätte für einen Augenblick beinahe hysterisch lachen müssen, als sie begriff, dass sie die geänderten Zahlenverhältnisse zumindest mathematisch zu dem einen Prozent machen würden.