Diese Story ist auch als Hörgeschichte erschienen.
Hustend erhob sich Erwin aus der Schlammpfütze und sah sich um. Sandra, seine Kollegin, war ebenso mitgenommen von ihrer Bruchlandung im Busch. „Flitzekacke!“, motzte sie, pulte einige Dornen aus ihrem Top und drehte sich dem Soldaten mit dem geschulterten Scharfschützengewehr zu. „So wie du röchelst platzt dir bald deine alte Raucherlunge.“
„Meine Nase ist voller Matsch“, verteidigte sich der Mann im Tarnanzug und streifte möglichst viel von der Brühe von seiner Hose. „Verdammte Vergangenheit, immer dasselbe. Das mit dem Landen müssen wir optimieren. Und mit ‚wir‘ meine ich unsere Chefwissenschaftlerin.“
Sandra guckte beschämt zu Boden und prüfte anschließend den in ihrem Handgelenk implantierten Timer. „Stimmt. Uns bleiben zwei Stunden bevor der Raumzeitriss sich schließt.“
„Okay, wo sind wir?“ Er hielt nach Orientierungspunkten Ausschau und wünschte sich abermals ein besseres Positionierungssystem für ihre Zeitmaschine. Zumindest erreichte Sandras Technologie mittlerweile einigermaßen zielsicher die gewünschten Planetenregionen, das war bei den ersten Versuchen noch nicht der Fall gewesen und sie strandeten im leeren Raum auf der Erdumlaufbahn.
„Schweiz, 1. August 2055“, bemerkte Sandra das Offensichtliche und zeigte über die von Regen nass gewordene Wiese hinunter auf ein Dorf. „Da.“
Erwin nahm das Scharfschützengewehr zur Hand und brummte: „Hoffentlich hat mir der Matsch nicht die Blaster-Komponenten ruiniert, wir haben erst in einem Monat ausreichend Energie für den nächsten Zeitsprung in die Zukunft, es reicht nur noch für den Rückweg und Ersatzteile kriege ich hier wohl nicht.“ Durchs Fernrohr linsend begutachtete er die Häuser und entdeckte den Bahnhof mitsamt Ortsschild. „Gstaad. Ha! Wir sind richtig“, freute er sich. „Und wo ist dieser Bundesrat, den ich umbringen muss?“
„Noch nicht da, wir sind zu früh“, seufzte Sandra. „Er wird in einer Stunde und sechsundfünfzig Minuten auf dem Bahnhofplatz eine Rede halten. Ich habe unseren Zeitsprung nach Hause so kalkuliert, dass er am Podium steht, wenn die Zeit abläuft, damit können wir uns eine unnötige Flucht sparen.“
Erwin deutete auf eine verlassene Scheune in der Nähe: „Verstecken wir uns dort drüben.“
„Hm“, machte Erwin gähnend. „Noch fünf Minuten. Bist du sicher, das wird klappen? Ich will nicht plötzlich in einem Zeitstrang enden, in dem wir zwanzig Jahre später einen Atomkrieg haben.“
„Das sollte schon gehen“, erwiderte Sandra zuversichtlich. „Alle Berechnungen sagen, wenn du Bundesrat Meier eliminierst, bevor er die Alleinherrschaft über die Schweiz an sich reißt, das Eidgenössische Imperium ausruft und die Kontrolle über die Appenzeller Atombomben bekommt, gibt es keinen dritten Weltkrieg. Die Schweiz bleibt nicht neutral.“
„Und die anderen sechs Bundesräte?“
„Nein, die sind kein Problem, die gehören nicht zu dem Komplott“, erklärte Sandra. „Nur er. Ein Mord, der die Zeitgeschichte verändert. Und wir kehren in eine bessere Gegenwart zurück. Bin gespannt, wie sich die Welt entwickeln wird … ähm, entwickelt hat … haben wird?“, gluckste sie und fügte ernst an: „Ich bin übrigens in diesem Kaff aufgewachsen und im aktuellen Zeitstrang knapp zehn Jahre alt, also knall bitte nicht versehentlich ein kleines Mädchen ab.“
„Ich bin Scharfschütze, kein Amokläufer“, beschwichtigte der Thurgauer Guerillakämpfer leicht verärgert. „Für was hältst du mich?“
„Was weiß ich? Soldaten sind mir suspekt“, lachte Sandra und knuffte ihren Zeitreisepartner in die Seite.
„Ach ja, wir sollen suspekt sein? Ihr Wissenschaftler seid schlimmer, mit euren Laborkitteln, Reagenzgläsern, Spektrometern, Kochplatten, Kuchen-Förmchen und was weiß ich sonst noch in eurem Labor gebunkert ist.“
„Kuchen?“ Sandra starrte ihn verwirrt an. „Okay, Kuchen wäre jetzt lecker.“
Erwin antwortete nicht und kommentierte stattdessen ruhig: „Ich habe freie Schussbahn.“
Sandra nahm ihren Feldstecher und beobachtete das Treiben am Bahnhof. „Warte, das ist …“, setzte sie alarmiert an, doch zu spät. Das Lasergewehr zischte und ein Blitz fuhr ins Dorf, wo er das Regierungsmitglied am Rednerpult in den Kopf traf. Zufrieden packte Erwin sein Gewehr weg, da wurde er von Sandra angebrüllt: „Oh Gott, was hast du getan?“
„Was, wieso?“
„Das war Bundesrat Maier mit „a“, der die Feier eröffnete, nicht Bundesrat Meier mit „e“. Das ändert alles, dafür habe ich keine Berechnungen!“
„Oh“, machte Erwin, stellte hastig das Gewehr wieder am Fenstersims auf und legte an. „Siehst du Meier?“
Panisch suchte Sandra mit dem Feldstecher die Gegend ab, ehe sie rapportierte: „Dorfstraße, auf dem Weg zum Bahnhof. Umgeben von Bodyguards.“
„Sehe ihn“, meldete Erwin sofort und drückte ohne zu zögern ab. „Kopfschuss. Das war jetzt der richtige?“
„Ja, verdammt nochmal“, stöhnte Sandra. „Trotzdem ändert das alles. Ohne meine Modelle und den Supercomputer habe ich keine Ahnung, was dieser beschissene Fehler für unsere Zukunft bedeutet. Vielleicht war Maier alles, was zwischen den Verschwörern und ihrer Weltherrschaft stand. Oder das Walliser Supersoldatenprogramm wird genehmigt, das wäre ein echtes Desaster …“
„Wir werden ja gleich erfahren, ob wir die Zukunft gerettet haben. Ob die Schweiz neutral bleibt oder nicht, ist genauso wichtig, es entscheidet, ob sie die Weltherrschaft an sich reißt.“ Erwin streckte sich und lauschte den herannahenden Kampfdrohnen. „Wie lange, bis uns der Raumzeitriss verschluckt?“
„Fünf Sekunden.“ Sandra schaute auf ihr Handgelenkimplantat. „Vier, drei, zwei, eins …“ Sie kniff die Augen zusammen und hoffte inständig, in eine Existenz zurückzukehren, in der ihr Land keine totalitäre Supermacht geworden war.