Diese Story ist auch als Hörgeschichte erschienen.
Diese Geschichte ist Teil der lose verbundenen Story-Reihe „Weihnachtsdorf“.
Marcel warf seine „Jack Reindeer“-Markenjacke achtlos auf den kleinen Tisch, der am Rand der Gemeinschaftsküche stand. „Ist ja mal wieder saukalt draußen“, lamentierte er, schüttelte sich in Abscheu und blieb in dem Raum stehen. „Von der Klimaerwärmung merkt man hier keinen Scheißdreck.“
Liv, seine Verlobte, eilte herbei und zischte: „Pst, der Dicke schläft auf der WG-Couch, weck ihn nicht auf!“
„Das geht mir ernsthaft auf den Keks“, greinte der berühmte Regisseur. „Irgendwann wird er sich von seinem Drogenproblem erholen müssen, es sind immerhin zwei Jahre, seit er das erste Mal was genommen hat. Oder frisst er das Zeug wieder?“
Liv nahm ihren Dauer-Hausgast sogleich in Schutz. „Ich bezweifle, dass er noch Drogen nimmt, zu den Treffen geht er jedenfalls regelmäßig. So oder so, wir haben ihn dazu verleitet, wenn auch unabsichtlich, also sind wir ihm das schuldig.“
„Diese Wohngemeinschaft zerreißt mir den letzten Nerv.“ Marcel zog seinen Hut aus und massierte sich die steifgefrorenen Elfsohren, ehe er sich auf einem Barhocker am Tresen niederließ. „Wir sollten mal darüber nachdenken, uns eine eigene Wohnung zuzulegen, eine, wo wir ungestört sind. Und wer weiß, vielleicht zieht ein junges Kätzchen mit uns dorthin?“
„Nö, ich mag die Wohnküche, die ist schön geräumig und du hast erst letzte Woche gesagt, du willst lieber ein Hündchen.“
„Egal, Hauptsache, ich bekomme ein junges Tier und zwar ohne den Alten, der auf unserer Couch schnarcht. Und dir gefällt die Küche nur, weil du sie zusammen mit Boris als Gerüchteküche nutzt.“
„Pst“, machte Liv und nickte in Richtung des Wohnzimmers, aus dem Boris herbeigetrottet kam. „Wenn man vom, Teufel spricht …“
„Hey, da sind ja meine liebsten Mitbewohner“, begrüßte sie der Neuankömmling und machte es sich neben den beiden bequem. „Ihr werdet nicht fassen, was ich gerade herausgefunden habe!“
Liv, stets neugierig auf die neuesten Gerüchte, lehnte sich gespannt vor. „Was denn?“
Boris senkte verschwörerisch seine Stimme. Indes widmete sich Marcel, den solche Geschichten langweilten, dem Einräumen des Kühlschranks. „Es geht um ihn“, verriet er, in Richtung des auf der Couch schnarchenden Weihnachtsmannes deutend. Nun hielt sogar Marcel kurz inne, schließlich konnte das bedeuten, dass der Alte seine Drogenprobleme endlich überwunden hatte und zurück in das Schloss ziehen könnte, das er früher bewohnt hatte.
„Raus damit“, flehte Liv hibbelig.
Boris nahm sich noch einige Sekunden, um die Spannung zu steigern. „Ich habe sein Tagebuch gefunden und du wirst nicht glauben, was er im Sommer so alles treibt!“
„Komm schon, der Alte führt kein Tagebuch, du willst uns veräppeln“, beschwerte sich Marchel.
„War ja klar, du desillusionierter Hipster-Elf glaubst an rein gar nix!“
„Na dann – was steht drin?“, erkundigte sich Marcel herausfordernd. Entweder, Boris war sehr gut im Angeben, oder aber er hatte in der Tat Informationen, die den Aufenthalt in der Gerüchteküche ausnahmsweise interessant gestalteten.
Boris befingerte eines der Blümchen, mit denen Liv jeweils den Tisch dekorierte und spannte die anderen beiden damit erneut auf die Folter. Schlussendlich erbarmte er sich und begann: „Okay, der Weihnachtsmann führt ein Doppelleben: Wir kennen ihn als den ehemals drogensüchtigen, schwer adipösen Kerl, der den Nordpol regiert. Im Sommer hingegen, wenn es keine Weihnachtsplätzchen gibt, trainiert er sich fit und bekämpft als maskierter Superheld Verbrechen!“
Marcel brach in Gelächter aus, was den schlafenden Santa zu einem Grunzen bewegte, ohne ihn aufzuwecken. Liv starrte Boris skeptisch an, ehe der Schalk um ihre Lippen spielte. „Ach was, veräppeln können wir uns selbst!“
„Es steht alles in seinem Tagebuch!“, beharrte Boris gelassen. „Er ist der mit einer roten Zipfelmütze maskierte Nico-Man, der erst letztes Jahr die Bande der Grinch-Gangster in die Flucht geschlagen hat, so glaubt mir doch!“
„Dann wäre er in der Tat eine Legende“, meinte Marcel versöhnlich. Er hatte seine Gründe, an Boris‘ Geschichte zu zweifeln, begriff allerdings, dass es klüger war, sein Misstrauen für sich zu behalten. „Sagen wir mal, erzählst die Wahrheit – wie ist er denn dazu gekommen, wurde er von einem radioaktiven Nikolaus gebissen?“
„Jetzt hör auf, dich über mich lustig zu machen“, wetterte Boris. „Natürlich nicht, es gibt nur einen Nikolaus. Es muss ein radioaktives Rentier gewesen sein, das erklärt alles am besten.“
„Halt, halt“, warf Liv sogleich ein. „Müsste er dann nicht Reindeer-Man sein?“
„Und wäre ein verstrahltes Rentier nicht eher ein Aas? Ich meine, ihr kennt die Geschichte von den Rentieren, die 1984 die Ukraine überflogen haben, richtig?“
Grummelnd erhob sich Boris und schlurfte aus der Küche. „Ihr glaubt mir ja eh kein Wort.“
Verwirrt schweigend sah ihm das Elfenpaar hinterher. Dann blickten sie einander an und prusteten unisono los. „Was sollte das eben?“, keuchte Liv, die sich als erste vom Lachanfall erholt hatte.
Marcel zwinkerte ihr zu und steckte eine seiner filterlosen „Bonhommes“ an, bevor er weiter die Einkäufe einräumte. „Verdammt, ich habe die Bio-Pinguineier vergessen!“
„Macht ja nichts“, munterte ihn seine Verlobte auf. „Die Dinger müssen eh vom Südpol importiert werden, bei der CO2-Billanz von fliegenden Rentieren ist es wahrscheinlich sowieso besser, wir verzichten darauf.“
Er schloss die Kühlschranktür und trat ans Fenster, das einen guten Ausblick auf das Weihnachtsdorf bot. „Da hast du auch wieder Recht.“ Grüblerisch sah er auf die Einfamilienhäuser am Südhang hinüber, die idyllisch unter den zuckenden Nordlichtern auf dem Eis standen. „Sobald Santa lange genug clean ist, können wir ausziehen und uns eines von diesen Häuschen leisten, gespart haben wir ja. Wir müssen uns bloß überlegen, ob Katze oder Hund, dann ist unsere Familienplanung abgeschlossen.“
„Ich frage mich, ob wir den armen Boris alleinlassen können“, murmelte Liv nachdenklich. „Er wird sicher weiterhin jeden Blödsinn über Santa für bare Münze nehmen, den er aufschnappt.“
„Das mag sein … Naja, zumindest ist es lustig!“, wandte Marcel ein. „Wann wollen wir ihm eigentlich sagen, dass er das Skript zu meinem neuesten Theaterstück für ein Tagebuch hielt?“
„Lass ihn noch ein paar Tage. Eventuell kommt er von selbst drauf“, kicherte Liv. „Es ist zwar gemein, aber saulustig.“
Der vermeintliche Nico-Man gab ein genervtes Geräusch von sich, drehte sich auf der Couch und landete auf dem Fußboden. „Rentierkacke!“
„Für einen Superhelden hat er ziemlich miserable Reflexe“, wisperte Liv amüsiert. „Santa, alles in Ordnung?“
„Hohoho“, lachte der berühmte Mitbewohner und rappelte sich auf. „Bald ist Weihnachten, ich freue mich schon, meinen Job machen zu können!“
„Welchen Job meinst du?“, wollte Boris, der eben ins Wohnzimmer zurückgekehrt war, wissen. „Den als Weihnachtsmann oder den anderen, geheimen?“