Diese Story ist auch als Hörgeschichte erschienen.
Diese Geschichte ist Teil der lose verbundenen Story-Reihe „Weihnachtsdorf“.
„Nur Mut, nur Mut“, redete sich Marcel gut zu, als er den Geländewagen seiner Frau über die vereiste Schnellstraße lenkte – die Lichtkegel der Scheinwerfer waren das Einzige, das er sah. Er war es sich nicht gewohnt, am Nordpol im Auto unterwegs zu sein, wie die meisten Elfen reiste er mit Rentierschlitten. Nur herrschte, wie jedes Mal vor Weihnachten, akuter Rentiermangel, weswegen er sich Livs Wagen ausgeliehen hatte. Sicher, so ein Gefährt hatte viele Vorteile, wie beispielsweise die Heizung, nur jagte ihm die Vorstellung, mit den Reifen auf Eis zu fahren weitaus mehr Angst ein, als der Flug mit einem Rentierschlitten. „Viel Stauraum hat das Ding“, murmelte er, über die Rücklehne nach hinten schauend, wo Liv ihre ganzen Weihnachtsgeschenke zu stapeln schien. „Und viele Geschenke, das ist ja ein Riesensack. Was ich wohl kriege? Vermutlich Socken.“ Ja, Originalität war, zumindest beim Schenken, keineswegs ihre Stärke, aber das spielte für ihn keine Rolle. Den großen Paketstapel ignorierend linste Marcel durch das Schneegestöber und konnte endlich die Werbetafel der nördlichsten Raststätte ausmachen. Eine riesige, blinkende Kaffeebohne prangte über der Straße und entschieden setzte Marcel den Blinker, der noch heller war als Rudolphs Nase. Schliddernd brachte er den SUV zum Stehen, wobei er einige deftige Flüche ausstieß und die Tatsache ignorierte, wie er quer zwei Parkplätze belegte. „Verdammt, Autofahren ist schwerer, als es aussieht.“
Während er in seiner Tasche nach dem Portemonnaie kramte, fiel ihm ein Limerick ein – einer der Nachteile daran, dass sein aktuelles Theaterstück nur Dialoge in diesem Versmaß hatten, war, wie oft ihm zu allem einer einfiel: „Es war mal ein Elf vom Nordpol; Dem war auf der Straße unwohl; Er parkte im Schnee; Und brauchte Kaffee; Sonst hieße es ‚auf Lebewohl‘. Hm, der ist nicht besonders gut.“
Damit öffnete er die Tür, sprang aus dem Wagen und rutschte nahezu auf dem Eis aus – er konnte sich noch im letzten Moment am Türgriff festhalten. „Klausverdammte Rentierkacke!“
„Ey!“, erklang ein Ruf über den Parkplatz und verwirrt sah Marcel in Richtung der Stimme. Aus dem Dunkel kam Boris auf ihr zugetrottet. „Hey, Marcel, du alter Hipster, was machst du denn?“ Mit dem Daumen auf das Auto deutend fragte er: „Na, is’ das Dienstrentier explodiert? Hast ihm Bohnen gefüttert?“
„Nein, nein, der gehört meiner Frau“, gab Marcel zurück, ehe er sich seiner Manieren besann. „Na, Boris, du altes Haus, was machst du denn, seitdem du nicht mehr Schauspieler beim Theater bist?“
„Werbespots für Weihnachtsgeschenke, vor allem“, gab dieser zurück. „Gar nicht schlecht bezahlt, ich muss schon sagen. Halt mal, du bist verheiratet? Nicht etwa mit Liv oder? Ihr zwei wart auch so ein Fall, bei dem alle jahrelang wussten, wie sehr ihr was voneinander wollt, ehe ihr euch das gesagt habt.“
„Doch, doch, mit Liv“, antwortete Marcel und zündete sich eine Kippe an. Er hatte zwar nichts gegen Boris, nur derzeit wesentlich mehr Lust auf Kaffee denn ein Gespräch.
„Na, das sind ja mal viele Geschenke“, kommentierte Boris trocken, auf die Rückbank linsend, nur um sich sogleich zu unterbrechen. „Oh, stimmt, ich hab noch deine Kalaschnikow!“
„Meine … was?“ Marcel starrte den anderen ungläubig an. „Ich hab keine …“
Boris brach in Gelächter aus. „Das Requisit von unserer letzten Aufführung, Mann! Ich habe die letzthin im Kleiderschrank unter den alten Unterhosen gefunden und dachte mir, so viel wie in deinen Stücken geballert wird, brauchst du die sicher.“
„Öhm, nein, behalt die, ich habe damals bei ‚Fry Hard‘ neue bestellt.“ Obschon Marcel nicht ungern sein Equipment zurückgehabt hätte, die Vorstellung, eine bei der Unterwäsche gelagerte Kalaschnikow in Händen zu halten, war zu viel. „Vielleicht musst du ja eines Tages in die Bank, um einen Kredit aufzunehmen und die geben dir mehr, wenn du eine Waffe dabeihast.“
Boris lachte herzhaft und Marcel hegte den Verdacht, der Größere würde gleich umkippen. Schließlich verabschiedete er sich sehr zur Erleichterung des Regisseurs endlich, schlenderte davon und rief über die Schulter: „Is‘ glatt hier, pass bloß auf, dass du nicht aufn Bürzel fällst.“
„Sehe ich aus wie eine Ente?“, brummte Marcel und ging, oder besser schlidderte, auf das Raststätten-Café zu, dazu rezitierend: „Es ist glatt, glatt, glatt, ich hab’s satt, satt, satt – nein, das wird kein guter Limerick.“
Wesentlich zufriedener kehrte Marcel, einen Becher dampfender Brühe haltend, zu Wagen zurück. Sicher, das Zeug war kein Starbucks, aber wenigstens enthielt es Koffein. Er drehte den Zündschlüssel und bog auf die Schnellstraße ein, auf der die Sichtverhältnisse mittlerweile noch schlechter waren. Aus dem Radio dröhnte dramatische Weihnachtsmusik, ein Stück, das ihm besonders gefiel, also drehte er den Lautstärkeregler weit auf. Das Zucken der unzähligen Schneeflocken verlieh ihm ein Schwindelgefühl und er versuchte, sich weniger darauf zu konzentrieren. „Verdammt, verdammt, verdammt, bald eine Leitplanke gerammt“, brummte er, aber auch diesmal wollte sich kein echter Reim finden lassen. Das rot-blaue Blinken von polizeilichen Rentiernasen über ihm fiel ihm erst auf, als sie schon lange hinter ihm her waren, zu sehr lenkte ihn das Gestöber draußen ab. „Verdammt“, fluchte er, sogleich an die große Tüte mit Gras denkend, die im Handschuhfach lag. Unüberlegt folgte er einem Reflex und trat aufs Gaspedal. Bald glaubte er, den Polizeischlitten abgehängt zu haben. „Das war zu knapp“, keuchte er und wollte aufatmen, als er einen lauten Knall auf dem Dach hören konnte. Erschrocken verriss er das Lenkrad und der schwere Wagen begann zu schleudern – glücklicherweise bekam er ihn wieder unter Kontrolle, ehe er ihm Straßengraben geladet wäre. „Scheiße, Scheiße, Scheiße!“, zischte Marcel und erwartete, einen Actionheld auf seinem Auto surfend vorzufinden, der gleich ein Fenster einschlug. Stattdessen klopfte ein dicker, roter Handschuh gegen die Windschutzscheibe und ein gedämpftes „Ho, ho, ho“ erklang über den Fahrtwind, ehe es vom Hupen eines entgegenkommenden Trucks übertönt wurde.
„Santa?“, keuchte Marcel endgültig verwirrt und bremste, bevor er in die nächste Haltebucht abbog. In der Tat rutsche nun der füllige, rot gekleidete Superheld der Festtage über die Windschutzscheibe und kam auf der Kühlerhaube zu sitzen. Marcel öffnete das Fenster und rief: „Santa, was machst du denn hier?“
„Deine Frau hat versehentlich meinen Geschenkesack eingeladen!“, rief der Weihnachtsmann, auf die Rückbank gestikulierend. „Ich brauche den!“
Marcel linste über seine Schulter, und in der Tat schienen sich die bereits vorher unzähligen Pakete nun verdoppelt zu haben – etwas, das nur mit dem magischen Sack möglich war. Beschämt half Marcel dem Nikolaus, von der Kühlerhaube zu klettern und den Sack auf seinen Schlitten umzuladen. „Es tut mir so leid, keine Ahnung, wie das passieren konnte.“
„Das war nicht euer Fehler“, lachte der Weihnachtsmann. „Ihr hattet den Müllsack rausgestellt und als ich euch Geschenke brachte, habe ich danach versehentlich den Müll mitgenommen.“
„Du meine Güte!“, keuchte Marcel. „Du hast doch nicht …“
„… doch, ein paar ganz brave Kinder haben leere Konserven und Bananenschalen bekommen, bevor ich es bemerkt habe, ho, ho, ho!“ Damit sprang er auf seinen Schlitten und die Rentiere hoben ab. „Halb so wild, wir sind gegen sowas versichert!“, rief er über den Lärm der startenden Rentiertriebwerke. Binnen Sekunden war er am Horizont verschwunden und Marcel wandte sich wieder dem Auto zu. „Er hatte nicht einmal Zeit, alle Geschenke mitzunehmen“, murrte er – die ganze Rückbank war mit Paketen belegt, mache langen auf dem Boden oder waren auf die Straße herausgekullert. Mit einem Schulterzucken riss Marcel eines der Geschenke auf und hielt eine brandneue Kalaschnikow in Händen. „Oh, es ist der Sack, der weiß, was man braucht? Nicht der Alte?“, murmelte er verwirrt und steckte die Waffe in den Gürtel, wie es höchstens ein Gangster-Elf tat. Auf die Idee, dass die Waffe kein Requisit war, kam er nicht, zu viel Vertrauen hatte er in die Magie des Sackes. Kurz musterte Marcel die restlichen Geschenke, eher sich sicher war, genug für all seine Freunde zu haben. „Super, damit haben sich die Weihnachtseinkäufe erledigt, auf nach Hause!“